Mitten im russisch besetzten Gebiet in der Südukraine liegt die ukrainische Stadt Melitopol. Seit über einem Jahr ist sie fest in russischer Hand und wurde sogar zur Hauptstadt der russisch besetzten Gebiete in der Oblast Saporischschja ernannt.
Jetzt soll aber Schluss sein mit der russischen Überhand in der Stadt. «Es ist laut! In allen Bezirken der Stadt waren gleichzeitig Explosionen zu hören!», schreibt Ivan Fedorow (34), der ehemalige Bürgermeister der ukrainischen Stadt Melitopol, am Mittwoch auf dem Nachrichtendienst Telegram. Die ukrainischen Truppen haben die Stadt nun ins Visier genommen.
Mitten im russisch besetzten und illegal annektierten Gebiet machen sich die ukrainischen Truppen mit voller Wucht bemerkbar. Der Angriff nährt Spekulationen über eine baldige ukrainische Gegenoffensive.
Bahnlinien überlebenswichtig für Russland
Die Eroberung Melitopols wäre ein strategisch sich lohnendes Ziel. Die Stadt ist der Dreh- und Angelpunkt der russischen Eisenbahn, eine der wenigen Bahnverbindungen zur Krim. Somit ist sie unverzichtbar als logistisches Zentrum des russischen Militärs. Dort befindet sich auch die grösste Wartungsanlage für Lokomotiven in der Südukraine. Und genau dieses Depot war der Fokus der ukrainischen Angriffe am Mittwoch. Der Beschuss durch ukrainische Truppen dürfte vor allem darauf zielen, den russischen Nachschub – der vor allem über den Bahnweg geliefert wird – an die Frontlinien zu behindern.
Ein ähnliches Manöver führten die Ukrainer bereits vor zehn Tagen auf der Krim durch. Auch dort stand ein Eisenbahnknotenpunkt in Dschankoj im Bombenhagel ukrainischer Drohnen. Mit dem gleichen Ziel wie in Melitopol: die für den russischen Krieg lebenswichtige Eisenbahn-Ader zu kappen.
Mindestens genauso wichtig ist Melitopol aber für die Ukraine. Nicht nur wäre eine Rückeroberung nach über einem Jahr in russischer Hand ein Erfolg mit symbolischer Schlagkraft. Melitopol könnte auch der Fokus und somit der Startpunkt der gross angekündigten ukrainischen Gegenoffensive sein. Als eine der Hauptzielrichtungen dieser Offensive gilt die Oblast Saporischschja. Wenn über Melitopol wieder die ukrainische Flagge weht, könnte den Ukrainern ein Vorstoss zum Asowschen Meer gelingen und so ein Keil zwischen die russischen Kräfte getrieben werden.
Melitopol könnte zum Wendepunkt im Krieg werden
Militärexperten sind sich sicher: Wenn die Ukrainer Melitopol zurückerobern, bricht die russische Defensive in der Südukraine zusammen. Denn ohne Melitopol können die Russen die Versorgung ihrer eigenen Truppen nicht mehr sicherstellen. Dann wäre für die ukrainischen Truppen der Weg in Richtung Krim frei – die Rückeroberung der Halbinsel ist eines der grössten Ziele der Ukraine.
Gleichzeitig bedeutet eine Rückeroberung Melitopols beinahe freie Bahn in Richtung Saporischschja. Die Stadt und das gleichnamige Atomkraftwerk liegen keine 120 Kilometer von Melitopol entfernt. Seit die Russen das AKW eingenommen haben, wächst die Sorge vor einer nuklearen Katastrophe. Auch der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Rafael Grossi, warnte am Donnerstag. Es sei offensichtlich, dass die militärischen Aktivitäten in der ganzen Region zunehmen würden. Ein ukrainischer Sieg in der Oblast Saporischschja würde allerdings die Sicherheit des AKWs langfristig erhöhen.
Nach den Städten Lyman, Cherson und Bachmut könnte Melitopol nun die nächste ukrainische Stadt sein, die in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückt.