Im Osten nichts Neues – scheinbar. Seit November, als die ukrainischen Truppen mit ihrer Herbstoffensive Cherson zurückerobert haben, haben sich die Frontlinien kaum verändert. Die aktuelle Pattsituation in der Ostukraine könnte aber die Ruhe vor dem Sturm sein. Denn die Ukraine hat Anfang Jahr eine Frühlingsoffensive für April angekündigt. Dann soll laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium auch die Rekrutierungsphase abgeschlossen sein.
Auch wenn die russische Frühjahrsoffensive noch nicht ganz beendet ist: Die Ukraine muss sich darauf vorbereiten, jeden Moment mit einer Gegenoffensive starten zu können, erklärt der Berliner Gustav Gressel (44), Experte für Sicherheitspolitik und Militärstrategien, im Gespräch mit Blick. «Sobald die russische Front an einem Ort zusammenbricht, muss die Ukraine diese Lücken nutzen.»
Russen graben sich an Frontlinie ein
Doch: Die Russen haben sich eingegraben. Genau an den Schlüsselstellen der Offensive – beispielsweise in Luhansk und Donezk – bauen die russischen Truppen ihre Verteidigungslinien auf. Dadurch ist der ukrainische Spielraum für Offensiven begrenzt. Dies zeigen Satellitenbilder, welche Brady Africk von der Denkfabrik American Enterprise Institute, ausgewertet hat.
Wie die «Frankfurter Allgemeine» (FAZ) schreibt, haben die russischen Besatzer bereits nach der letzten ukrainischen Gegenoffensive im Herbst damit begonnen, ihre Verteidigungslinien zu festigen.
Diese Verteidigungslinien bestehen aus kilometerlangen Gräben, die feindliche Panzer aufhalten sollen, «Drachenzähnen» – pyramidenförmige Panzersperren aus Beton – und weiteren Hindernissen. So ist es leichter für die russischen Truppen, die verlangsamten ukrainischen Panzer anzugreifen.
Auffällig: Nicht nur auf ukrainischem, sondern auch auf russischem Gebiet wird fleissig gebaut. Über 400 Kilometer erstreckt sich der neue eiserne Vorhang entlang der ukrainisch-russischen Grenze, schreibt die «FAZ». Und das mit gutem Grund.
Ukrainer könnten Russland angreifen
Zuletzt haben die Amerikaner versprochen, 18 sogenannte «ground-launched small diameter bomb» (GLSDB, etwa: Bodengestartete Bomben) in die Ukraine zu senden. Reichweite: 160 Kilometer. Lieferdatum: unbekannt. Die bislang gelieferte HIMARS-Munition reicht nur halb so weit. Laut dem russischen Verteidigungsministerium wurden bereits GLSDB eingesetzt. Eine Bestätigung von ukrainischer oder amerikanischer Seite bleibt aus.
Damit könnten die ukrainischen Truppen auch Angriffe in der russischen Tiefe starten. Laut Gressel könnten Angriffe auf russisches Territorium durchaus möglich sein. Er spricht vor allem Drohnen an – doch auch Langstreckenraketen könnten hier eine Chance bieten.
Zwar hängt die ukrainische Schlagkraft von westlichen Waffenlieferungen ab. Doch nach und nach trudeln immer mehr Panzer, Raketen und Munition in der Ukraine ein. Deutsche Leo-2-Panzer und britische Challenger-2 haben es kürzlich an die Front geschafft und sind ein weiterer Vorbote einer bevorstehenden Gegenoffensive.
Wohin die Gegenoffensive führen wird, ist unklar. Eine ukrainische Offensive würde etwa im Bereich der Landbrücke im Süden Sinn ergeben, erklärt Markus Reisner (45), Offizier des österreichischen Bundesheers der «FAZ». So könnte ein Angriff auf die Krim möglich werden. Aber die neun Kilometer lange Landbrücke, welche die Krim mit dem Festland verbindet, ist gespickt mit russischen Verteidigungsanlagen. Der Angriff auf die Krim selbst wird ein sehr schwieriges und gefährliches Unterfangen für die Ukraine.
Denkbar wären auch andere Optionen. Etwa ein Durchbruch der östlichen Versorgungsrouten in Richtung des Gebiets Luhansk oder der Versuch, durch gleichmässige Überlastung mehrerer Frontabschnitte lokale Geländegewinne zu verbuchen.