Erbitterte Kämpfe toben noch immer um die ostukrainische Stadt Bachmut. Die russische Armee soll die Stadt mittlerweile fast komplett umzingelt haben, die Ukrainer geben aber nicht auf. Unermüdlich beschiessen sich die Kriegsparteien gegenseitig. Noch. Denn beiden Seiten geht die Munition aus.
Oleksij Resnikow (56), Verteidigungsminister der Ukraine, erklärte diese Woche gegenüber EU-Kollegen: Kiew brauche pro Monat mindestens 250'000 155-Millimeter-Artilleriegranaten, um sich im Donbass gegen Russland verteidigen zu können. Die haben sie aber nicht. Seine Streitkräfte würden nur etwa 120'000 pro Monat abfeuern, so Resnikow. Denn der Nachschub aus dem Westen lässt auf sich warten.
Der Grund ist kein politischer, sondern ein ökonomischer: Die europäische Rüstungsindustrie kommt nicht nach – sie ist auf den Bedarf in Friedenszeiten und nicht auf Kriegsproduktion ausgelegt. Nick Witney, politischer Mitarbeiter beim Europäischen Rat für auswärtige Beziehungen, erklärt gegenüber Blick: «Niemand hat damit gerechnet, dass sich Europa wieder in einem langfristigen Krieg befinden wird. Die militärisch-industriellen Kapazitäten und Waffenbestände sind dadurch kontinuierlich zusammengeschrumpft.»
Drei-Punkte-Plan soll Abhilfe schaffen
Gerade mal 650'000 Granaten kann sie jährlich produzieren, einschliesslich anderer Munitionstypen wie 120- und 105-Millimeter-Geschosse. Das sind nur 55’000 pro Monat – nicht mal ein Viertel des ukrainischen Bedarfs. Der Eigenbedarf der EU-Länder ist da noch nicht eingerechnet.
Am Mittwoch haben sich die Verteidigungsminister der EU deshalb in Brüssel getroffen, um eine Lösung für dieses Problem zu finden. In einem internen Papier, das «ZDF» vorliegt, hat der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell (76) einen Drei-Punkte-Plan vorgestellt, wie man der Ukraine jetzt helfen will:
- Es sollen sofort 155-Millimeter-Grosskaliber im Wert von einer Milliarde Euro an die Ukraine geschickt werden
- Die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) soll ab jetzt gemeinsam Munition einkaufen, um Lücken in den Lagern der Mitgliedsstaaten zu schliessen
- Die europäische Kapazität zur Munitionsherstellung soll langfristig gesteigert werden
Europäische Militärindustrie am Limit
Borrell unterstreicht die Dringlichkeit, mit der dieses Problem behoben werden muss: «Wenn wir in dieser Frage versagen, ist das Ergebnis des Krieges in Gefahr.» Witney vom Europäischen Rat führt aus: «Wir müssen die Ukraine sicher durch die Bachmut-Phase bringen – erst dann kann man auf eine wirksame Gegenoffensive hoffen.» Es sei ein Rennen gegen die Zeit – und die europäische Rüstungsindustrie ist kurz davor, dieses Rennen zu verlieren.
Doch mehr Munition zu produzieren ist leichter gesagt, als getan. Laut «New York Times» müsste Europa seine Produktionskapazitäten um 300 Prozent steigern, um die Ukraine und sich selbst mit genügend Munition einzudecken. Gemäss Camille Grand (53), ehemaliger stellvertretender Nato-Generalsekretär für Verteidigungsinvestitionen, dauert es jedoch zwei bis drei Jahre und enorme Investitionen, bis neue Anlagen in Betrieb gehen.
Um den akuten Munitions-Engpass zu bewältigen, gibt es für Nick Witney deshalb zwei Lösungen. Entweder man schaut sich nach anderen Herstellerländern wie Südkorea um. Oder Europa leert seine Waffenlager noch weiter, auch mit dem Risiko, selbst mit leeren Händen dazustehen. Witney betont aber: «Es gibt keinen besseren Nutzen für europäische Munition, als sie in die Ukraine zu senden. Nur so kann Russland aufgehalten werden.»
Obwohl die russischen Munitionsfabriken auf Hochtouren arbeiten, hat auch Russland mit Munitionsknappheit zu kämpfen. Das Land hat auch die Zahl der abgefeuerten Granaten ebenfalls reduziert. Im letzten Sommer feuerten die Russen im Donbass Schätzungen zufolge 40'000 bis 50'000 Artilleriegeschosse pro Tag ab, nun sind es laut Schätzungen der EU noch 10'000. Doch das ist immer noch mehr als doppelt so viel, als die Ukrainer laut eigenen Angaben derzeit verschiessen.