Der Grabenkrieg und die Panzergefechte in der Ukraine wirken anachronistisch. Dennoch ziehen US-Experten gegenüber der Nachrichtenagentur AFP aus dem Konflikt wichtige Erkenntnisse für mögliche künftige militärische Konflikte, etwa in Taiwan oder im Nahen Osten.
Künstliche Intelligenz
Der Krieg in der Ukraine sei ein Test für die Sensorfusion, sagt der Verteidigungsexperte Stephen Biddle (64) von der Columbia University. Dabei werden die Daten verschiedener Quellen verknüpft, um ein umfassenderes Bild des Schlachtfelds zu erhalten. Die US-Firma Palantir stattete die ukrainische Armee mit auf künstlicher Intelligenz basierender Technologie aus, die riesige Mengen an Daten verarbeitet und es den Befehlshabern damit ermöglicht, das Kriegsgeschehen in Echtzeit zu verstehen – also die Bewegungen russischer Truppen, ihre Positionen und die von ihnen anvisierten Ziele.
Autonome Drohnen
Beide Seiten setzen in der Ukraine Drohnen in grossem Massstab ein. Die nächste Stufe wären autonome Drohnen, die so programmiert sind, dass sie selbstständig angreifen, ohne dass ein Mensch die letzte Entscheidung trifft. Solche «Killerroboter» wecken Befürchtungen, dass Generäle und Politiker die Kontrolle über einen Krieg verlieren könnten. Doch in gewisser Weise ist diese Zukunft bereits Realität: Die Ukrainer nutzen die US-Drohne Switchblade, die mögliche Ziele erkennen kann.
Open Source Intelligence
Open Source Intelligence (Osint) gilt als entscheidend für moderne Kriegsführung. Dabei werden Informationen aus frei zugänglichen Quellen für militärische Zwecke genutzt. Sowohl in der Ukraine als auch in Russland durchforsten Geheimdienste und zivile Aktivisten Telegram-Gruppen, kommerzielle Satellitenfotos, öffentliche Wetter- und Waldbrandkarten sowie Tiktok-Videos, um Rückschlüsse auf Standorte und Strategien des Gegners zu ziehen. Schon vor dem 24. Februar 2022 habe es auf solchen Kanälen Hinweise auf die bevorstehende Invasion gegeben, sagt Candace Rondeaux von der Denkfabrik New America.
Luftverteidigung
Trotz aller Investitionen in Tarnkappenbomber spielen bemannte Flugzeuge in der Ukraine kaum eine Rolle, und auch grössere Raketen hatten nur begrenzte Wirkung. Der Grund dafür ist die Luftabwehr, bei der bodengestützte Raketen Attacken aus der Luft abfangen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat gezeigt, dass Länder weitaus mehr Luftabwehrbatterien in ihren Beständen benötigen. Das ist teuer: Die begehrten US-Patriot-Batterien kosten mehr als eine Milliarde Dollar.
Mehr Munition
Die wichtigste Lehre ist den Militärexperten zufolge, dass unglaublich viel Munition gebraucht wird, sodass der Nachschub für die Ukraine derzeit selbst mithilfe der Verbündeten schwierig zu beschaffen ist. Die USA müssten ihre Technologien den Nato-Partnern zur Verfügung stellen, um eine koordinierte Produktion zu ermöglichen, sagt Rondeaux.
Dezentrales Kommando
Die flexiblen, dezentralen Kommandopraktiken der Ukraine haben sich auf dem Schlachtfeld als ein grosser Vorteil gegenüber Russland erwiesen. «Eine starre, zentralisierte Befehls- und Kontrollstruktur nach russischem Vorbild ist seit langem eine schlechte Idee», sagt Verteidigungsexperte Biddle. Auch einige Nato-Staaten seien immer noch so organisiert, was sich nur schwer ändern lasse.
Kampfgeist
Zu Beginn der russischen Invasion gab es sowohl in Moskau als auch im Westen Zweifel daran, ob die Ukrainer ihr Land energisch verteidigen würden. «Die Kampfmotivation ist von enormer Bedeutung», sagt Biddle. «Ob das taiwanische Militär so motiviert wäre wie das ukrainische, ist eine sehr wichtige Frage.» (AFP/jmh)