Vor ihrer Teilnahme am Gedenkanlass zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz (Polen) besuchte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga das Stammlager. Sichtlich berührt schritt die Bundespräsidentin durch das Lagergelände. Im Teil des Lagers, der heute ein Museum ist, wird das Ausmass des Grauens auf erschreckende Weise sichtbar: Ausgestellt hinter Glas sind hier Berge von Haaren, Koffern, Brillen und Schuhen – Lederschuhe, rote Stöckelschuhe und Kinderschühlein.
Vor der Schwarzen Wand, an der SS-Männer Tausende Gefangene erschossen, legte Sommaruga einen Kranz nieder und gedachte der Million Menschen, die hier in Auschwitz ermordet wurden.
Sie sind als Bundespräsidentin zum zweiten Mal in Auschwitz. Wieso?
Simonetta Sommaruga: Es ist ganz wichtig, dass die Schweiz an diesen Gedenkfeiern dabei ist. Wir haben eine Verantwortung, uns zu erinnern – damit wir nicht vergessen. Und um nicht zu vergessen, müssen wir immer wieder an diesem Ort kommen. Denn hier ist dokumentiert, was geschehen ist. Über eine Million Menschen sind hier auf grausamste Art und Weise getötet worden.
Bundesrat Delamuraz prägte den Ausspruch «Auschwitz liegt nicht in der Schweiz». Es war eine Reaktion auf die Vorwürfe gegen die Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs, die in den 90er-Jahren laut wurde. Was hat Auschwitz mit der Schweiz zu tun?
Es gibt Auschwitz. Diese Vernichtung von Menschen ist geschehen. Das heisst: Es kann wieder geschehen. Wenn wir zusammen jede Form von Hetze und Hass, Antisemitismus verhindern wollen, müssen wir die Augen aufmachen und uns auch damit konfrontieren, was hier und in allen anderen Konzentrationslagern passiert ist.
Weshalb sind Sie mit zwei jüdischen Überlebenden und zwei Studierenden hierher gereist?
Mir war es wichtig, Überlebende dabeizuhaben. Um mit ihnen im Gespräch zu sein, aber auch, um ein Stück weit den Weg gemeinsam mit ihnen hierher zu gehen. Und zugleich sind auch zwei Studierende mitgereist, die sich sehr intensiv mit dem beschäftigen, was hier passiert ist. Einerseits schauen wir zusammen in die Vergangenheit: Das war. Das ist passiert. Aber wir schauen auch gemeinsam in die Zukunft, sehen, wogegen wir zusammen ankämpfen müssen: gegen Hetze, Rassismus und Antisemitismus.
Welche Begegnung auf dem Weg hierher hat Sie berührt?
Eine der Überlebenden erzählte mir, wie sie als zehnjähriges Mädchen bei ihrer Ankunft in Auschwitz registriert wurde. Wie es hiess, dass sie in die Gaskammer müsse. Und sie dann sagte: Ich will arbeiten, ich kann arbeiten, ich bin alt genug. Daraufhin zeigte der Finger in die andere Richtung. Dieses Mädchen überlebte, ihre ganze Familie wurde umgebracht. Sich diese einzelne Geschichte vorzustellen, sich vorzustellen, was diese Frau erlebt hat und wie sie damit umgeht, das beeindruckt und beschäftigt mich.
In Ihrem Grusswort erinnern Sie auch an die über 391 Schweizer und Schweizerinnen, die in Konzentrationslagern waren. Wieso?
Es ist wichtig, dass wir uns auch an die Schweizerinnen und Schweizer erinnern, die in Konzentrationslagern waren. Auch daran, dass die wenigen, die überlebt haben und in die Schweiz zurückgekommen sind, teilweise sehr kaltherzig empfangen wurden.
Weshalb ging das Schicksal dieser Schweizerinnen und Schweizer so lange Zeit vergessen?
Teilweise wohl wegen fehlenden Wissens und auch, weil zu lange weggeschaut wurde. Man wollte es nicht wahrhaben. Ich bin darum froh, dass das nun in einem Buch aufgearbeitet wurde. Es ist aber wichtig, dass man nicht die einen Opfer gegen die anderen ausspielt.
Getötet haben im Zweiten Weltkrieg andere. Was kann die Schweiz aus dem Schrecken des Holocaust lernen?
Wir können unter diese Erinnerung keinen Schlussstrich ziehen. Wir müssen uns erinnern. Das hier ist tatsächlich passiert. Das sehen wir hier auf diesem Boden, über den wir jetzt gerade gemeinsam gehen. Wir müssen hinschauen und wachsam sein, was heute passiert. Überall wo es Verfolgung und Antisemitismus gibt, ist es unsere Aufgabe, hinzuschauen und die Augen nicht zu verschliessen.