Schwer bewaffnete Uniformierte schneiden Löcher in den Drahtzaun. Sie dringen mit Pick-ups, auf Motorrädern oder aus der Luft mit Paraglidern in die Siedlungen. Die Kämpfer treten Türen ein, zerren Menschen aus den Häusern, verschleppen Menschen. Sie durchbrechen Verteidigungsanlagen und überwältigen Panzertruppen.
Das alles passierte nicht nur an jenem verheerenden 7. Oktober 2023, als Tausende von Terroristen auf einem israelischen Open-Air-Festival wüteten, Zivilisten in Kibbuzen folterten und töteten sowie rund 240 ihrer Opfer nach Gaza entführten.
Mehr zum Thema Israel
Szenen ähnlich jener des Massakers an rund 1200 Israelis, liefen bereits seit vier Jahren auf öffentlich zugänglichen Social-Media-Kanälen. Propagandavideos, die militärische Übungen glorifizieren, die nur wenige Hundert Meter von Israels Grenzzaun entfernt durchgeführt wurden.
Verschiedene Terrorgruppen übten für das Massaker
BBC Arabic und BBC Verify durchkämmten das Netz und die Messenger-App Telegram. Sie analysierten, wie die Hamas ihre Armee aufstellte und sie auf die sogenannte «Operation Sturmsäule» drillte. Anhand der Tarnanzüge und der beschrifteten Stirnbänder erkennen die britischen Reporter Kämpfer von zehn verschiedenen Terrorgruppen.
So nahmen neben der grössten Kampftruppe der Hamas, den Kassam-Brigaden, und der Zweitgrössten des Islamischen Dschihads, beispielsweise auch die marxistisch-leninistischen «Abu Ali Mustafa-Brigaden», die «Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden» der Fatah, die Kämpfer der palästinensischen Al-Mudschaheddin-Bewegung und die «Omar Al-Qassim-Streitkräfte» der «Demokratische Front zur Befreiung Palästinas» an den Kriegsspielen teil.
Vier grosse Manöver habe es gegeben, berichtet BBC, jedes Jahr eines. Überwacht wurden sie von einer Kommandozentrale der Hamas. Im Dezember 2022 simulierten die Kämpfer den Sturm auf eine israelische Militärbasis.
Satellitenbilder zeigen 14 militärische Trainingsstätten
Das Trainingslager lag 1,6 Kilometer vom nächsten israelischen Beobachtungsturm entfernt und war in einer künstlichen Senke aufgebaut worden. Eigentlich unübersehbar von der israelischen Luftüberwachung. Auch in der Nähe eines Verteilzentrums der UN-Hilfsorganisation wurde der Angriff auf Israel geübt. Insgesamt lokalisiert BBC Verify über im Netz verfügbare Satellitenbilder 14 Trainingsstätten an neun Standorten im Gazastreifen.
Wochen vor dem Massaker verdichteten sich die Übungen, die man auf dem Telegram-Kanal verfolgen konnte. So wurden am 10. September Bilder von Uniformierten veröffentlicht, die militärische Einrichtungen entlang der Gaza-Grenze beobachteten. Zwei Tage später kam es zur Generalprobe für die «Operation Sturmsäule». Dabei wurden Terrortrupps gefilmt, wie sie die gleichen weissen Pick-Ups fuhren, die einen Monat später für die Attacke auf die Kibbuze und das Festival eingesetzt wurden.
Grenzwächterinnen der israelischen Armee meldeten Wochen vor den Anschlägen in der Nähe der Gaza-Grenze eine ungewöhnlich hohe Drohnenaktivität und verdächtiges militärisches Training. Ihre Warnungen wurden nicht gehört.
«Israel hat geglaubt, unbesiegbar zu sein»
Trotz der umfangreichen und offensichtlichen Kriegsvorbereitungen war die Grenze am Morgen des 7. Oktober, als rund 3000 Terroristen nach Israel eindrangen, so gut wie ungeschützt. Über 17 Stunden waren Zivilisten völlig wehrlos der mörderischen Meute ausgeliefert. Wie konnte das passieren?
Für Andreas Krieg (37) hat die rechtspopulistische Regierung von Benjamin Netanyahu das Versagen zu verantworten. «Das Militär wurde auf die Besatzung des Westjordanlandes fokussiert, nicht auf die Verteidigung des Landes. Es galt in erster Linie die Siedler zu schützen und so wurden Soldaten von der Gaza-Grenze abgezogen», sagt der Sicherheitsexperte am Kings College London im Blick-Gespräch.
«Israel hat sich aufgrund der hochmodernen Überwachungstechnologie, der eingesetzten Künstlichen Intelligenz und dem militärischen Raketenschutzschirm Iron Dome einfach unbesiegbar gefühlt», sagt Andreas Krieg. Alle Warnungen seien fahrlässig in den Wind geschossen worden. Man habe den Palästinensern keine Zweistaatenlösung mehr zugestanden, sie entmenschlicht, sie nicht mehr wahrgenommen. Man habe ihren Zorn ignoriert. Die Arroganz der Regierung habe am Ende zur Katastrophe geführt, so der britische Nahost-Kenner.