Streit um EU-Rahmenabkommen 2.0
FDP will Gewerkschaften entmachten

Beim Thema EU treibt der SGB-Präsident Aussenminister Cassis vor sich her. Wirtschaftsverbände toben. Und aus dem Parlament kommt die Forderung, die Arbeitnehmervertreter zu entmachten.
Publiziert: 12.11.2023 um 00:21 Uhr
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Aktualisiert: 12.11.2023 um 10:52 Uhr
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Unia-Präsidentin Vania Alleve und Pierre-Yves Maillard im März 2022 in Zürich.
Foto: keystone-sda.ch
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Die Woche begann mit einem Verrat, mit einem schweren Vertrauensbruch. So sagen es die einen. Die anderen nennen es einen notwendigen Regelverstoss. 

Wie man das jüngste Vorpreschen der Gewerkschaften einschätzt, hängt von der Lesart ab. Sicher ist: Sie haben Ignazio Cassis (62) die Show gestohlen. 

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Der Mittwoch hätte eigentlich zum Tag des Aussenministers werden sollen. Es kam anders. Schon am Montag hauten die Verbände Gewerkschaftsbund und Travailsuisse, also die geballte schweizerische Arbeitnehmervertretung, eine schrille Medienmitteilung raus. Mit dem gängigen Kampfvokabular: Abbau verhindern! Service public sichern! Lohnschutz!

Anlass war ein winziger Lichtblick im Europadossier. Der Bundesrat hatte sich dazu durchgerungen, das Verhandlungsmandat für eine Annäherung mit Brüssel in Auftrag zu geben. Ein Lichtblick für den EDA-Vorsteher, ein wichtiger, wenn auch kleiner Etappensieg vor den Bundesratswahlen am 13. Dezember.

Der freisinnige Magistrat will jeden Widerstand möglichst früh einhegen, weshalb er die Sozialpartner, also Arbeitgeber und Gewerkschaften sowie Parteispitzen, das sogenannte Sounding Board, im vertraulichen Rahmen stets auf dem Laufenden hielt.

Gewerkschaftsbund hielt nicht dicht

So auch dieses Mal. Doch Gewerkschaftsbund und Travailsuisse brachen die Abmachung und gingen bereits am Montag an die Öffentlichkeit. Damit setzten sie die Nation über die frohe Botschaft von Cassis in Kenntnis, bevor der federführende Bundesrat sie zwei Tage später selbst verkündete. 

Die Gewerkschaften haben dadurch die Deutungsmacht an sich gerissen. Wieder einmal. Man sei «sehr besorgt» über den «Verlauf der Gespräche» mit der EU-Kommission, hiess es im besagten Communiqué von SGB und Travailsuisse. Aus dem «Projekt eines institutionellen Abkommens» sei ein «Liberalisierungsprogramm» geworden, klagen die Arbeitnehmervertreter. Betroffen seien unter anderem der Energiemarkt und der Verkehr. Aus linker Sicht ist dies ein ordnungspolitischer GAU.

Zwar wird die gesellschaftliche und historische Wichtigkeit der Gewerkschaften von niemandem bestritten. Dennoch ist in der Bundesverwaltung der Ärger über das Muskelspiel des SGB-Präsidenten Pierre-Yves Maillard (55) und seiner Genossen gross. Wer sich im europafreundlichen Lager umhört, vernimmt aber mehr negative Stimmen über Cassis – der Tessiner erweise sich wieder einmal als «führungsschwach», sagt eine FDP-Nationalrätin; er sei «kein Leader», schnödet ein Parteikollege. Es herrscht der Eindruck, dass in seinem Departement vor allem die Angst vor den Gewerkschaften regiert.

Cassis wurde indes nicht nur vor, sondern auch hinter den Kulissen desavouiert. Gemäss Recherchen von SonntagsBlick plante das EDA eigentlich einen viel weitergehenden Text zu veröffentlichen, der das Erreichte in Brüssel höher gewichtet hätte. 

In der Vorwoche allerdings gab es ein Tauziehen um jedes einzelne Wort, bei dem die SP-Bundesräte Alain Berset (51) und Elisabeth Baume-Schneider (59) mithilfe ihrer SVP-Kollegen Guy Parmelin (64) und Albert Rösti (56) – der das Stromabkommen sowieso überschätzt findet – Cassis ausgebremst hatten. 

So hiess es etwa in der Urfassung, dass die offenen Fragen zwischen Bern und Brüssel mit den Sondierungsgesprächen hätte geklärt werden können. Stattdessen wurde dann am Mittwoch nur noch verkündet, dass «ein Grossteil der Fragen zufriedenstellend» hätte geklärt werden können. Der Teufel steckt im Detail.

Überraschender Zeitpunkt

Im EU-freundlichen Lager erstaunt vor allem das Timing im Hause Cassis. Der Kotau gegenüber Maillard und Co. erfolge zu einem Zeitpunkt, der es eigentlich erlauben würde, das politische Standing der Gewerkschaften zu testen. In der letzten Legislatur war deren Machtspiel aufgegangen – sie opponierten gemeinsam mit dem rechtsbürgerlichen Lager erfolgreich gegen eine Einigung mit Brüssel. Der Gewerkschaftsflügel trieb die Sozialdemokraten vor sich her und blockierte sowohl die SP-Parteispitze als auch die eigenen Bundesräte, wodurch man das Rahmenabkommen schliesslich im Frühjahr 2021 erfolgreich bodigte. 

Dabei gab es für die viel besagte Chancenlosigkeit des Abkommens beim Volk nie den geringsten Hinweis, im Gegenteil: Die wenigen vorhandenen Umfragen deuteten stets auf Zustimmung zu einer institutionellen Lösung mit Brüssel hin. 

Im Frühjahr 2021 zeigte eine Erhebung im Auftrag des Branchenverbands Interpharma, dass sich 64 Prozent der Stimmberechtigten ein institutionelles Abkommen wünschen. Doch zum Urnengang kam es nie: Am 26. Mai beerdigte der Bundesrat das «Rahmenabkommen 1.0», ohne das Volk jemals befragt zu haben.

Verpasste Chance

Heute, zweieinhalb Jahre später und mit einem frisch gewählten Parlament, wäre das Potenzial für eine Wende vorhanden: Das sogenannte Momentum läge in der neuen Legislatur nicht bei den Gewerkschaften, sondern bei deren Gegnern: Der langjährige SGB-Präsident und Mehrheitsmacher Paul Rechsteiner (71) sitzt nicht mehr im Ständerat, Unia-Kader Corrado Pardini (58) bereits seit vier Jahren nicht mehr, Travailsuisse-Präsident Adrian Wüthrich (43) hat soeben den Einzug in den Nationalrat verpasst, die grüne VPOD-Präsidentin Katharina Prelicz-Huber (64) musste um ihre Wiederwahl zittern. Vom Kampf gegen den Mitgliederschwund der Organisationen ganz zu schweigen

Der frisch gewählte Waadtländer Ständerat Maillard ist das letzte wirkliche Alphatier der Gewerkschaften unter der Bundeshauskuppel. Erschwerend für sein Lager kommt hinzu, dass mit den fünf Bundesratskandidaten und der -kandidatin der SP ein europapolitischer Pragmatiker – manche würden sagen: ein Euroturbo – auf den Freiburger Dogmatiker Alain Berset (51) folgen wird. Die Karten werden also neu gemischt.

All das hielt Cassis nicht von seinem Schmusekurs gegenüber den Gewerkschaften ab. Mit dem kurios anmutenden Resultat, dass der Bund den Gewerkschaften eine Mitsprache bei der Aushandlung eines Stromabkommens gewährt. In Beamtendeutsch heisst so etwas dann: «Das Uvek wurde beauftragt, gemeinsam mit dem WBF und dem EDA Gespräche mit der Elektrizitätsbranche, den Kantonen und den Sozialpartnern zu führen über interne Umsetzungsmassnahmen im Zusammenhang mit einem Stromabkommen.» 

Worauf sich die energiepolitische Kompetenz der Arbeitnehmervertreter stützt, die doch eigentlich vor allem für die Rechte von Büezerinnen und Büezern eintreten sollen, ist nicht restlos geklärt. Fest steht, dass Cassis seinen Widersachern ein wertvolles Pfand in die Hand legt. Und jene Wirtschaftskreise erzürnt, die auf ein Strom- und ein Landverkehrsabkommen pochen. Wenn es um die EDA-Spitze geht, ist mittlerweile vom «Kabinett des Dr. Larifari» die Rede.

150 Franken pro Jahr

Gemäss Berechnungen des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse würde das Scheitern eines Stromabkommens mit der EU für jeden Schweizer Haushalt einen Kaufkraftverlust von 150 Franken pro Jahr bedeuten. Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder (64) erklärt gegenüber SonntagsBlick: «Die Gewerkschaften torpedieren eine Einigung mit der EU. Sie nehmen in Kauf, dass die Bevölkerung für den Strom mehr zahlt und das Stromnetz gefährdet wird.» Es sei «unverständlich», so Mäder weiter, «dass man ihnen beim Stromabkommen nun noch eine besondere Plattform bietet».

Der Zürcher FDP-Nationalrat und Cassis-Vertraute Hans-Peter Portmann (60) wird in der neuen Legislatur die Aussenpolitische Kommission (APK) präsidieren. Aus Sorge um das Rahmenabkommen 2.0 geht er noch weiter: Er droht damit, die Arbeitnehmervertreter zu entmachten. «Das Parlament wird die Monopolstellung der Gewerkschaften brechen und Reformen zu einer echt liberalen Sozialpartnerschaft einleiten müssen», sagt er im Gespräch mit SonntagsBlick. Am Montag will er das Thema in der APK einbringen. 

Was die Ausgangslage für Cassis nicht einfacher macht. 

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