Es wird winterlich. Die Temperaturen sinken, und auch für einen tapferen Bundesrat aus dem Tessin werden die Tage kürzer. Ignazio Cassis, studierter Mediziner und Arzt, 2017 unter Applaus in die Regierung gewählt und spätestens mit seinem Spruch über den «Reset-Knopf» in der Europapolitik verewigt, verheisst der Nation immer und immer wieder, ein für alle Mal, die grosse Einigung mit der Europäischen Union, die institutionelle Regelung der bilateralen Verträge. Sämtlichen Warnrufen über den Souveränitätsverlust zum Trotz.
Innenpolitische Attacken steckt er furchtlos weg. Auf die Kritik am Schweizer Stimmverhalten bei einer Uno-Resolution im Gazakrieg antwortet er in der «NZZ» mit einem Essay gegen Antisemitismus. Über den grünen Angriff auf seinen Bundesratssitz schweigt er sich aus, wie auch über das lauter werdende Rütteln an der Zauberformel, das letztlich ihn meint. Jetzt torpedieren ihn die Gewerkschaften im Moment eines kleinen, aber wichtigen Triumphs und reissen das Heft an sich. Der federführende Magistrat, der doch in bester Absicht alle Kräfte eingebunden hatte, findet sich wieder einmal in der Defensive.
Ohnehin bleibt die Europadebatte reine Spiegelfechterei, solange man sich vor dem grossen Thema wegduckt – der Migration. Als SonntagsBlick vor zwei Wochen den SVP-Tycoon Christoph Blocher interviewte, wurde klar: Die bilateralen Verträge lassen Herrliberg so kalt wie noch nie. Und SVP-Energieminister Albert Rösti macht keinen Hehl mehr daraus, dass er das Stromabkommen für überschätzt hält.
Gleichzeitig erhöht sich der Druck auf die Personenfreizügigkeit mit jedem Tag, an dem Leute in überfüllten Zügen sitzen oder erfolglos eine Wohnung suchen. Wer gegen die Zuwanderung redet, gewinnt Wahlen. Die ominöse Guillotine-Klausel, die existenziell-ultimative Verknüpfung aller zentralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU, verliert damit zunehmend ihren Schrecken.
Wie sehr sich die Landesregierung dieser Lage bewusst ist, fällt unter das Amtsgeheimnis. Ignazio Cassis jedenfalls wandelt mit dem Europadossier der beginnenden kalte Jahreszeit entgegen. Klaglos bis zum Ende, wie der Leiermann in Schuberts «Winterreise».