Ein Team von Amnesty International (AI) will die mutmasslichen Kriegsverbrechen in der Ukraine genau unter die Lupe nehmen. In den letzten Tagen haben Mitarbeiter vor Ort mit zahlreichen Augenzeugen gesprochen und Beweise gesammelt.
Einige von ihnen berichten über Einschüchterungen, rechtswidrige Gewalt und willkürliche Tötungen unbewaffneter Zivilpersonen durch russische Streitkräfte in der Region Kiew.
Dabei zeigt sich: Butscha ist wohl kein Einzelfall. «Berichten zufolge werden Zivilpersonen in der Ukraine auf entsetzlich grausame und brutale Weise in ihren Häusern oder auf der Strasse getötet. Vorsätzliche Tötungen von Zivilpersonen sind Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Die Todesfälle müssen gründlich untersucht und die dafür Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt werden und das über die gesamte Befehlskette», fordert Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von AI.
In einer Medienmitteilung am Donnerstag veröffentlicht AI die persönlichen Berichte von drei Menschen aus der Region.
«Soldaten schossen meinem Mann in den Arm»
Eine 46-jährige Frau aus Bohdaniwka habe demnach mitansehen müssen, wie ihr Mann erschossen wurde. Am 9. März seien Soldaten in ihr Haus eingedrungen und hätten das Paar und die zehnjährige Tochter in einen Heizungsraum gestossen.
«Sie haben uns hineingeschubst und die Tür zugeschlagen. Nur eine Minute später öffneten sie die Tür wieder und fragten meinen Mann, ob er Zigaretten habe. Er sagte Nein, und dass er schon seit einigen Wochen nicht mehr geraucht hätte. Daraufhin schoss ihm einer der Soldaten in den rechten Arm. Der andere meint darauf, ‹Mach ihn fertig›, und sie schossen ihm in den Kopf.»
Ihr Gatte sei nicht sofort gestorben, über sechs Stunden lang habe er ihren Erzählungen zufolge noch geatmet, sei aber bereits bewusstlos gewesen. «Ich habe ihn angefleht, dass er seinen Finger bewegen solle, wenn er mich hören könne. Er hat seinen Finger nicht bewegt, aber ich habe seine Hand auf mein Knie gelegt und sie gedrückt. Er hat stark geblutet. Bei seinem letzten Atemzug habe ich mich zu meiner Tochter gedreht und gesagt: ‹Ich glaube, Papa ist gestorben›.»
Die Erzählungen der 46-jährigen Frau bestätigt ein Nachbar gegenüber AI. Er habe gesehen, wie die Soldaten ins Haus eingebrochen seien, und er habe den Leichnam des Mannes in der Ecke des Heizungsraums gesehen.
«Mein Vater hatte sechs grosse Löcher im Rücken»
Rund 100 Kilometer weiter westlich, in der Siedlung Worsel, musste die 18-jährige Katerina Tkatschowa am 3. März erleben, wie ihre beiden Eltern erschossen wurden. Als die russischen Panzer ihre Strasse entlangfuhren, seien ihre Eltern raus aus dem Keller, wo sie sich bis dahin versteckt hatten. Was sie draussen wollten, ist unklar. Jedoch sagten sie ihrer Tochter, sie solle bleiben, wo sie sei. Kurz darauf habe der Teenager Schüsse gehört.
«Als die Panzer vorbeigefahren waren, bin ich über den Zaun zum Nachbarhaus rüber. Ich wollte nachschauen, ob sie noch leben. Als ich über den Zaun schaute, sah ich meine Mutter auf dem Rücken am Strassenrand liegen, während mein Vater mit dem Gesicht nach unten auf der anderen Strassenseite lag. Sein Mantel hatte grosse Löcher. Am nächsten Tag bin ich zu ihnen gegangen. Mein Vater hatte sechs grosse Löcher im Rücken, meine Mutter ein kleineres Loch der Brust», erzählt sie gegenüber AI.
Eine Woche später konnte Katerina die Siedlung verlassen. Zusammen mit einem Helfer schrieb sie noch die Namen ihrer Eltern – Natalia und Valeri – sowie das jeweilige Geburts- und Todesdatum auf einen Stück Karton und legte ihn neben die Leichen.
«Sie haben sofort auf uns geschossen»
In den ersten Tagen der Besatzung lieferte Taras Kusmak im 16'000-Seelen-Städtchen Hostomel Lebensmittel und Medikamente an Zivilpersonen aus, die in Luftschutzkellern sassen.
Anfang März sass er zusammen mit dem Bürgermeister Juri Prilipko (†61) und zwei weiteren Männern im Auto, als der Wagen von einem Wohngebäude aus beschossen wurde. Nach Angaben von Kusmak hätten russische Streitkräfte das Haus besetzt gehabt. Die Männer versuchten, sich aus dem Auto zu retten. Einer von ihnen – Iwan Sorja – wurde direkt getötet. Laut Kusmak sei sein Kopf abgetrennt worden. «Sie müssen etwas Grosskalibriges verwendet haben», sagte er zu AI.
Auch der Bürgermeister wurde getroffen und fiel verletzt zu Boden. Kusmak und der zweite Überlebende haben sich stundenlang hinter einem Bagger versteckt gehalten.
«Sie haben sofort geschossen, als sie uns bemerkt haben, ohne Vorwarnung. Ich konnte nur den Bürgermeister hören. Ich wusste, dass er verletzt war, aber nicht, ob die Verletzungen tödlich waren. Ich habe ihm nur gesagt, dass er still liegenbleiben und sich nicht bewegen sollte.» Einige Zeit später hätten die Soldaten erneut auf sie geschossen, und etwa eine halbe Stunde später habe er bemerkt, dass Prilipko kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben habe.
Zwei weitere Einwohner von Hostomel haben gegenüber AI bestätigt, dass sie den Leichnam des Bürgermeisters in der Nähe einer Kirche gesehen haben, als dort einige Tage später ein improvisiertes Begräbnis für ihn abgehalten wurde. (man)