Darum gehts
Draussen zeigt das Thermometer -12 Grad Celsius an. Die wenigen Passanten, die von Kopf bis Fuss eingepackt sind, versuchen, so gut es geht, auf den vereisten Bürgersteigen der grönländischen Hauptstadt das Gleichgewicht zu halten. Nuuk hat 20’000 Einwohnern und liegt 240 Kilometer südlich des nördlichen Polarkreises.
Einer der Einwohner ist Jørgen Boassen (50). Der Maurer stolziert in einem schwarzen T-Shirt mit der Aufschrift «American Badass» herum und freut sich über dessen Wirkung. Auf seiner Brust ist das blutverschmierte Gesicht seines Idols mit erhobener Faust zu sehen, wenige Sekunden nachdem es im letzten Juli einem Mordanschlag entkommen war.
Bei Trumps Triumph dabei
US-Präsident Donald Trump. Jørgen Boassen erzählt seine Geschichte in einem Stück. Er hat sie schon Dutzende Male vor Journalisten aus der ganzen Welt vorgetragen, ist zu einem lokalen Star geworden. Vor allem seit dem Besuch von Trumps Sohn Donald junior (47) im letzten Januar. Ein Moment, der die Insel, die seit mehr als 200 unter dänischer Kontrolle steht, in den Fokus der Weltöffentlichkeit katapultiert hat. «Als ich 2016 anfing, meine Unterstützung für Trump auf Facebook zu zeigen, wurde ich ausgelacht. Ich war der Einzige hier. Ich galt als Spassvogel», sagte Boassen amüsiert und lehnte sich gegen eine Bank.
Doch sein Einsatz zahlt sich schliesslich aus. Der Grönländer wird wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen 2024 nach Pennsylvania eingeladen, um von Tür zu Tür zu gehen und die letzten Unentschlossenen zu überzeugen. Boassen erlebt den Triumph von Donald Trump am 6. November im Palm Beach County Convention Center in Florida.
Ein «privater» Besuch, der für Gesprächsstoff sorgt
Anfang Januar 2025 kontaktierte ihn Charlie Kirk (31), ein in den USA äusserst populärer konservativer Influencer. «Er bat mich, eine kleine Gruppe von Leuten zusammenzustellen, um ‹Don Jr.› am Flughafen zu empfangen und ihm die Stadt zu zeigen.» Boassen kommt der Aufforderung nach. Am 7. Januar landete eine Boeing 757 mit dem Trump-Schriftzug auf der vereisten Landebahn der arktischen Metropole, an Bord Trump Junior, für einen «privaten» Besuch, der für viel Aufsehen sorgt.
Weder die grönländische, noch die dänische Regierung waren darüber informiert worden. Am Vortag hatte Donald Trump (78) im sozialen Netzwerk Truth Social erklärt, dass «die Kontrolle über Grönland eine absolute Notwendigkeit für die nationale Sicherheit und die Freiheit auf der ganzen Welt» seien. Selbst wenn er eine gewaltsame Annexion des Landes in Betracht ziehen müsste.
Eine Insel mit begehrten Ressourcen
Schon seit Jahren befindet sich die 57’000 Einwohner zählende Insel, deren Bevölkerung zu 90 Prozent aus Inuit besteht, im Visier des neuen Chefs der grössten Weltmacht. Bereits 2019 wollte Trump das halbautonome Gebiet, das seit 1814 unter dänischer Oberhoheit steht, kaufen.
Grönland («grünes Land») liegt näher an New York als an Kopenhagen und beherbergt seit 1943 im Nordwesten der Insel, in Pituffik, einen US-Militärstützpunkt. Mit der globalen Erwärmung schmilzt das Packeis. Grönland wird deshalb zum strategischen Epizentrum der neuen polaren Handelsrouten, die den Pazifik mit dem Atlantik verbinden.
Wenn die 2,2 Millionen Quadratkilometer grosse Insel, die zu 80 Prozent von Eis bedeckt ist, alle Begehrlichkeiten auf sich zieht, dann auch wegen der natürlichen Ressourcen, von denen in ihrem Untergrund reichlich vorhanden sind. Es geht um Zink, Kohle, Gold, Platin, Rubine, Uran, Nickel, Kupfer oder Eisenerz – und um seltenen Erden, die für Technologien, wie elektrische Batterien oder Windkraftanlagen, unerlässlich sind. Ein noch unerschlossener Schatz, der den Bergbauunternehmen das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt.
Parlamentswahlen unter Hochspannung
Donald Trumps Expansionsbestrebungen in Richtung der arktischen Insel haben die Unabhängigkeitsbestrebungen der Inuit-Bewohner, die davon träumen, sich von Dänemark zu emanzipieren, neu entfacht. Wenige Tage vor den Parlamentswahlen vom Dienstag (11. März) ist die Stimmung in Nuuk elektrisiert.
«Anders als bei der Wahl 2021, als für die grönländische Wählerschaft der Umweltschutz noch wichtiger war als die Unabhängigkeit, dürfte diesmal die Frage einer möglichen Abhängigkeit von den USA wahlentscheidend sein», erklärt Michael Paul (65) von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik. Grönland strebe die Loslösung vom dänischen Königreich an, werde dabei aber kaum bereit sein, das Ziel der Unabhängigkeit an eine neue America-First-Ordnung abzugeben – insbesondere wenn dabei weder das Recht auf Selbstbestimmung noch der Umweltschutz ausreichend respektiert würden.
Der Preis der Unabhängigkeit
Die Unabhängigkeit wird zwar von der grossen Mehrheit der politischen Parteien angestrebt, doch der Zeitplan und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind je nach politischer Gruppierung unterschiedlich. Die Unabhängigkeit hat zudem ihren Preis: 4,4 Milliarden Dänische Kronen (rund 530 Millionen Franken) zahlt Kopenhagen jährlich an Grönland.
Die Unabhängigkeit Grönlands will auch Nivi Rosing (21), eine linksgrüne Kandidatin für einen der 31 Sitze im Inatsisartut, dem grönländischen Parlament. Aber zu gegebener Zeit. «Wir müssen die Inuit-Kultur wieder in den Mittelpunkt stellen. Aufhören, uns mit Dänemark zu vergleichen und uns der immensen Auswirkungen von 300 Jahren kolonialer Unterdrückung auf die psychische Gesundheit der Inuit bewusst werden.» Und die junge Frau erinnert an die Selbstmordrate in Grönland (rund 80 pro 100'000 Einwohner pro Jahr), die zu den höchsten der Welt gehört. «Wir erben die Traumata der Vergangenheit, aber ich interessiere mich für unsere zukünftige Genesung.» Sie schliesst: «Früher oder später wird es unsere Unabhängigkeit sein.»