Zehn Jahre und einen Monat lang hatte er nichts gesagt. Clarence Thomas (74), Richter am US-Supreme Court, galt als «der grosse Schweiger». Der erst zweite schwarze Richter am höchsten Gericht der USA sass jahrelang unauffällig im Hintergrund, während seine Kollegen über die spektakulärsten Urteile im Land urteilten. Das änderte sich im Februar 2016. Da machte Thomas, nach zehn Jahren und einem Monat, wieder seinen Mund auf und stellte einer Anwältin eine Frage. Diese war zwar belanglos, aber alles, was darauf folgte, nicht.
Denn seither sind die USA stark nach rechts gerückt. Die Demokraten stellen noch den – nicht gerade beliebten – Präsidenten, die meisten Analysten gehen aber davon aus, dass nach den Kongress-Wahlen im Herbst die Republikaner die Mehrheit im Senat und Repräsentantenhaus haben werden. Das höchste US-Gericht ist da bereits weiter: die Konservativen dominieren.
Thomas gibt den Ton an
Der letzte, eindeutigste Beweis war vor wenigen Tagen der Entscheid des Supreme Courts, Abtreibungen zu verbieten. Das Gericht wird seither von den Konservativen, insbesondere den Christen, geliebt, von allen anderen gehasst. Der mittlerweile einflussreichste dieser höchsten Richter ist zugleich der konservativste und kontroverseste: Clarence Thomas (74).
Seit seiner Wortmeldung im Jahr 2016 hat er sich radikal gewandelt. Mittlerweile gehört Thomas laut «New York Times» zu den redseligsten Richtern und nimmt mehr Einfluss auf die Entscheide als jeder andere. Dazu gehört nicht nur das Abtreibungsverbot, sondern auch die Ausweitung des Waffenrechts oder die Einschränkung des Wahlrechts. Diese jüngsten, riesigen Veränderungen seien das Resultat, aber kaum das Ende einer christlich-konservativen Kampagne, die Thomas am höchsten Gericht mit flankiere, schreibt der «Spiegel» in einem Porträt über Thomas. Und bezeichnet den Rechtsruck des Supreme Courts als «Krönung seines Lebenswerks.»
Vom Freiheitskämpfer zum Kämpfer der Konservativen
Thomas wuchs im Bundesstaat Georgia auf. Im Dorf Pin Point, das nach dem Bürgerkrieg von Sklaven gegründet worden war. Später schaffte er es, an der renommierten Yale University aufgenommen zu werden und dort Jura zu studieren. Er profitierte dabei von einer Quotenregelung für benachteiligte Minderheiten, der sogenannten »Affirmative Action«, die er selbst als Richter später ablehnte, wie der «Spiegel» schreibt. Thomas demonstrierte zudem gegen den Vietnamkrieg und war Anhänger von Malcolm X. Eine Ehe zwischen Weissen und Schwarzen lehnte er strikt ab.
Daneben tat er sich aber viele Jahre lang schwer, einen Job zu bekommen, was er auf seine Hautfarbe schob. Laut seinen Wegbegleitern sei er immer konservativer geworden und habe der Bürgerrechtsbewegung vorgeworfen, nur «zu jammern und zu meckern», schreibt der «Spiegel». Unterdessen hat er sich von dieser entfremdet. Er kämpft nicht mehr länger für die Rechte der Schwarzen. Abtreibungen beispielsweise werden laut dem US-Gesundheitsministerium fünfmal häufiger von schwarzen als von weissen Frauen vorgenommen. Sie leiden unter dem Entscheid des Supreme Courts am meisten.
Thomas überstand Missbrauchsvorwurf
Dass Thomas in dieser Position sein kann, verdankt er Weissen. Darunter der aktuelle US-Präsident Joe Biden (79). Thomas arbeitete in den 80er-Jahren als parlamentarischer Assistent eines Republikaners in Washington, als ihn der damalige US-Präsident George Bush (1924 – 2018) zuerst zum Richter ernannte und 1991 für den Supreme Court nominierte.
Allerdings kam es bei der Anhörung von Thomas, ein Prozess, den jeder, der für das Amt nominiert wird, durchlaufen muss, zu einem riesigen Skandal. Anita Hill (65), eine schwarze Juraprofessiorin, beschuldigte Thomas vor dem Justizausschuss der sexuellen Belästigung. Thomas dementierte alles, bezeichnete die Vorwürfe als «High-Tech-Lynchmord». Ausgerechnet Joe Biden, er war damals Vorsitzender des Ausschusses, beendete die Diskussion. In einem politischen Deal mit der anderen Seite erlaubte er, dass die Republikaner Hill als Stalkerin verleumdeten, berichtet der «Spiegel». Er beendete die Anhörungen, ohne weitere Zeuginnen anzuhören. Daraufhin wurde Thomas knapp als US-Supreme-Court-Richter gewählt. Ein Entscheid, den Biden nicht erst heute bitter bereuen dürfte.
Seine Frau ging im Weissen Haus ein und aus
Dabei führte Thomas zuerst ein Schattendasein im Supreme Court. Er verfasste ein paar radikale Papiere, fand dafür aber kaum Mehrheiten. Unterstützung fand er in seiner Frau Ginni Thomas (65), eine (weisse) Rechtsanwältin, die sich ebenfalls für christlich-konservatives Gedankengut einsetzt und unter anderem mit Steve Bannon (68), dem späteren Chefberater Donald Trumps (76), eine Gruppe gründete, die Verschwörungstheorien propagiert. Es war eine Zeit, als Ginni Thomas im Weissen Haus ein und aus ging und fleissig die Geschichte Trumps vom gestohlenen Wahlsieg weiterverbreitete, die schliesslich am 6. Januar 2021 im Sturm auf das Kapitol gipfelte.
Thomas distanzierte sich zwar öffentlich von den Überzeugungen seiner Frau, machte aber auch nie ein Geheimnis daraus, mindestens so radikal zu denken. 1993 berichtete die «New York Times», Thomas habe geschworen, 43 Jahre im Amt zu bleiben, nur um den Liberalen «das Leben schwer zu machen». In seinen Memoiren schrieb er, dass er alle Gegner «überleben» wolle, berichtet der «Spiegel». Darunter Anita Hill, die Frau, die ihn des sexuellen Missbrauchs anklagte, und »scheinheilige Weisse».
Der Rechtsrutsch des Supreme Courts
Nachdem Thomas 2016 erstmals wieder am Supreme Court gesprochen hatte, konnte er diese Gedanken immer freier formulieren. Denn während Donald Trump Präsident war, hatte er das Glück, gleich drei Richter-Posten im US-Supreme-Court neu besetzen zu können, nachdem unter anderem die liberale Ikone Ruth Bader Ginsburg (1933 – 2020) gestorben war. Mit Neil Gorsuch (54), Brett Kavanaugh (57) und Amy Coney Barrett (50) entschied sich Trump für drei Konservative – der Rechtsrutsch im Gericht war vollzogen.
Und Thomas, der jahrelang unten durch musste, stand plötzlich an der Spitze der Nahrungskette des Gerichts. In diesem Jahr zeige er sich nun «völlig entfesselt», schreibt der «Spiegel».
Thomas will mehr
Thomas verfasste das Grundsatzurteil zur Lockerung des US-Waffenrechts, das trotz unzähliger Schul-Massaker in den USA durchkam. Das Abtreibungsurteil schrieb zwar jemand anders, aber Thomas sagte laut «Spiegel», nur zustimmen zu wollen, wenn noch andere Grundrechte infrage gestellt würden. Allen voran die gleichgeschlechtliche Ehe, die Straffreiheit von homosexuellem Sex und die Empfängnisverhütung.
Welchen Präsidenten sich Thomas zurückwünscht, ist zudem ebenfalls klar. Der Supreme Court hatte Donald Trump vor wenigen Monaten angewiesen, Akten aus dem Weissen Haus an den Kongressausschuss zum Kapitol-Sturm zu übergeben. Thomas war der einzige Richter, der dagegen stimmte.
Seine Wahl – ein grosser Fehler?
Unterdessen gilt in Nicht-Konservativen Kreisen als sicher, dass Thomas nie hätte gewählt werden dürfen. «Es ist mittlerweile klar geworden, dass Thomas den Justizausschuss angelogen hat, als er sagte, er habe Anita Hill niemals sexuell belästigt», zitiert der «Spiegel» den Politologen Corey Robin aus dem Jahr 2019. Über mehrere Jahre trugen Journalisten zuvor Indizien zusammen. Darunter Aussagen diverser Frauen, welche die Vorwürfe Hills bekräftigten.
Joe Biden entschuldigte sich 2019 bei Anita Hill. Sie nahm seine Entschuldigung nicht an.