Der US Supreme Court hat das landesweite Recht auf Abtreibungen gekippt. Sechs der neun Richter des höchsten Gerichts der USA stimmten für diese Entscheidung, wie der Supreme Court am Freitag mitteilte. «Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung», heisst es in der Urteilsbegründung.
Die Entscheidung ist keine Überraschung: Anfang Mai hatte das Magazin «Politico» einen Entwurf dazu veröffentlicht. Daraus ging bereits hervor, dass das Gericht so entscheiden will. Daraufhin gab es einen Aufschrei von Frauenrechtsorganisationen, Kliniken und Liberalen. Diese Proteste dürften sich in den nächsten Tagen und Wochen noch verschärfen.
Bundesstaaten entscheiden selber
Zugrunde liegt dem Urteil der Fall «Roe v. Wade». Dieses war der Präzedenzfall für Abtreibungen. 1973 urteilte der Supreme Court, dass Abtreibungen bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, ungefähr der 24. Schwangerschaftswoche, möglich sind. Ein weiteres Urteil von 1992, Planned Parenthood v. Casey, bestärkte die Rechtsprechung und passte sie etwas an. Der Supreme Court hat diese Entscheidungen jetzt gekippt.
Nun dürfen die einzelnen Bundesstaaten selber entscheiden, ob bei ihnen abgetrieben werden darf oder nicht. Mehrere von ihnen haben bereits Gesetze erlassen, die nach dem nun erfolgten Wegfall der bundesstaatlichen Regelung die Abtreibung stark einschränken. Einige Staaten haben bereits Gesetze vorbereitet, die sofort in Kraft treten können, wenn die bisherige Rechtsprechung kippt - sogenannte Trigger Laws. Es sind vor allem die erzkonservativen Staaten im Süden und mittleren Westen, die Abtreibung ganz oder fast komplett verbieten wollen.
Missouri verbietet alle Abtreibungen
Wenige Minuten nach dem Urteil hat Missouri entschieden, sämtliche Abtreibungen zu verbieten. «Die Aufhebung von Roe und Casey erlaubt es Missouri heute, seine stolzen Pro-Life-Traditionen zu erneuern und den grundlegenden Rechtsschutz für das fundamentalste aller Menschenrechte wiederherzustellen - das Recht auf Leben», schrieb Missouris Generalstaatsanwalt Eric Schmitt in seinem Entscheid. In Missouris Gesetz sind keine Ausnahmen vorgesehen, auch nicht bei Inzest oder Vergewaltigungen.
Oklahoma am 19. Mai ein neues Gesetz verabschiedet, das alle Abtreibungen unabhängig von der Schwangerschaftswoche verbietet. Ausnahmen sollen möglich sein, wenn das Leben der schwangeren Frau in Gefahr oder die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung oder von Inzest ist.
Auch in Louisiana haben die Abtreibungskliniken angekündigt, ihre Tore zu schliessen. Die einzige Abtreibungsklinik in der Millionenstadt New Orleans hat zwei Stunden nach dem Entscheid des Supreme Courts ihre Mitarbeiter nach Hause geschickt.
Über 1000 Kilometer weiter zur nächsten Abtreibungsklinik
Für Schwangere bedeutet die Entscheidung, Hunderte oder gar Tausende Kilometer reisen zu müssen, um eine Abtreibungsklinik zu erreichen. Viele können sich das nicht leisten. Befürchtet wird, dass wieder vermehrt Frauen versuchen, selbst eine Abtreibung vorzunehmen.
Das Guttmacher-Institut, das für Pro-Choice einsteht, erwartet, dass 26 der 50 Bundesstaaten sofort gegen Kliniken vorgehen werden, die Abtreibungen anbieten. Laut Studien wird sich die durchschnittliche Distanz zur nächsten Abtreibungsklinik um über 1200 Kilometer vergrössern, berichtet die BBC.
Auch die Vereinten Nationen (Uno) haben auf die Gesundheitsrisiken für Frauen hingewiesen. «Daten zeigen, dass die Einschränkung des Zugangs zur Abtreibung die Menschen nicht davon abhält, eine Abtreibung durchzuführen – sie macht sie nur tödlicher», teilte der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen am Freitag mit.
«Ein düsterer Tag in der Geschichte der USA»
Das Abtreibungsrecht ist in den USA immer wieder Thema heftiger Auseinandersetzungen. Gegner versuchen, die liberalen Regeln seit Jahrzehnten zu kippen. Unter dem vorigen Präsidenten Donald Trump rückte der Supreme Court deutlich nach rechts. Der Republikaner ernannte während seiner Amtszeit die Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Die Richterinnen Sonia Sotomayor und Elena Kagan sowie Richter Stephen Breyer stimmten gegen die Entscheidung. Sie gelten als liberal.
«Heute ist ein düsterer Tag in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Millionen von Menschen in den Vereinigten Staaten, die schwanger werden können, sind zukünftig damit konfrontiert, dass sie höchst persönliche Entscheidungen, die ihren Körper, ihre Zukunft und das Wohlergehen ihrer Familie betreffen, nicht mehr selbst treffen können», teilt Amnesty International in einer Stellungnahme mit. Ungefähr jede vierte Frau würde laut der NGO in den USA einmal in ihrem Leben einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen.
«Zugleich ebnet das Urteil den Weg für eine noch nie dagewesene staatliche Gesetzgebung zur Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sowie für weitere Gesetzesentwürfe, die darauf abzielen, den Menschen in den Vereinigten Staaten ihre Menschenrechte zu entziehen», heisst es weiter. Dazu würden auch mögliche Gesetzesentwürfe gehören, die den Zugang zu Geburtenkontrolle, die Gleichberechtigung der Geschlechter und die gleichberechtigte Ehe sowie andere Gesetze gegen Diskriminierung betreffen.
Obama ruft zu Protesten auf
Auch der ehemalige US-Präsident Barack Obama (60) äusserte sich. «Heute hat der Oberste Gerichtshof nicht nur fast 50 Jahre Präzedenzfälle rückgängig gemacht, er hat die persönlichste Entscheidung, die jemand treffen kann, den Launen von Politikern und Ideologen überlassen - und die grundlegenden Freiheiten von Millionen von Amerikanern angegriffen», schrieb er bei Twitter.
Obama teilte zudem einen Bild mit einem Text: «Schliesst Euch den Aktivisten an, die seit Jahren Alarm schlagen beim Zugang zu Abtreibungen, und handelt. Steht mit ihnen bei einem örtlichen Protest», hiess es dort.
*Der Artikel wurde auch mit Material der Nachrichtenagentur Keystone-SDA geschrieben.