2014 rang die Schweiz Putin noch einen Waffenstillstand ab
Jetzt steht Cassis nur noch an der Seitenlinie

Eine Sternstunde helvetischer Aussenpolitik: 2014 rang die Schweiz Wladimir Putin einen Waffenstillstand ab. Das ist lange her.
Publiziert: 20.02.2022 um 16:29 Uhr
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Realität heute: Ein Einmarsch Russlands in die Ukraine scheint nur noch eine Frage der Zeit.
Foto: AFP
Tobias Marti und Sven Zaugg

Wladimir Putin grinst und greift nach der Hand seines Gegenübers. Das heisst Didier Burkhalter, schaut ziemlich siegessicher, und auf einmal wirkt sein kleines Heimatland im Herzen Europas ziemlich gross: Mit dieser Begegnung vom 7. Mai 2014 durfte die Eidgenossenschaft vom Eintrag in die Geschichtsbücher träumen.

In jenem Jahr hatte die Schweiz den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) inne. Als Bundespräsident war der freisinnige Aussenminister für kurze Zeit eine Art Weltpolitiker. Burkhalter rang dem russischen Präsidenten nach der Annexion der Krim einen Waffenstillstand ab. Es gab viel Lob für das helvetische Verhandlungsgeschick. «Chapeau!», jubelten die Medien, Burkhalter wurde Schweizer des Jahres. Seine Partei sah ihn bereits als Friedensnobelpreisträger. Grösser gehts nicht.

Acht Jahre später sind der helvetischen Friedenstaube die Flügel gestutzt. Keine Seite hält sich mehr an den Waffenstillstand, den Burkhalter im Schlepptau der Grossmächte ausgehandelt hatte. Seit dem historischen Handshake forderte der Konflikt mehr als 13'000 Menschenleben. Hunderte werden vermisst. 1,6 Millionen Menschen sind auf der Flucht.

Heute scheint ein russischer Überfall auf die Ukraine kurz bevorzustehen, die Amerikaner warnen seit Tagen immer lauter vor einem russischen Einmarsch. Gestern kamen besorgniserregende Meldungen im Minutentakt. «Die Probleme, die es heute zu lösen gilt, unterscheiden sich nicht wesentlich von denen, um die es vor vielen Jahren ging», sagt alt Bundesrat Burkhalter im Gespräch mit SonntagsBlick.

Dem Friedensprozess droht ein bitteres Ende

Der Neuenburger meint damit, wie europäische Sicherheit interpretiert wird, wie sich die Nato entwickelt, wer wie abrüstet und wer mit wem eine Partnerschaft eingeht. Doch eine Annäherung, die zur dauerhaften Entspannung hätte führen können, sei ausgeblieben, das Misstrauen auf beiden Seiten gewachsen.

In der Ukraine kristallisiere sich das verheerende Missverständnis zwischen Ost und West, bilanziert Burkhalter: «Ein schreckliches Schicksal.»

Die Schweizer Diplomatie spielte damals bei den Minsker Gesprächen eine zentrale Rolle. Nur, was blieb?

Der Osteuropa-Experte Benno Zogg von der ETH Zürich analysiert es so: «Der Minsk-Prozess zur Lösung des Ukrainekonflikts harrt substanzieller Fortschritte und kann nur an Fahrt gewinnen, wenn Russland und der Westen wieder einen konstruktiveren und pragmatischen Umgang finden können und kein offener Krieg ausbricht.»

Doch nach den Ereignissen der letzten Tage sei zunehmend unwahrscheinlich, dass der Prozess von Minsk überhaupt eine Zukunft haben kann. «Mit der Anerkennung der Separatisten oder offenem Krieg wäre der Friedensprozess am Ende», sagt Zogg.

Schweizer Hilfe nützt nur begrenzt

Dennoch bleibt das Minsker Abkommen der letzte Strohhalm für einen Frieden. Wie also soll sich die Schweiz aussenpolitisch positionieren?

Die Ukraine gehört als einer der grössten und ärmsten Staaten Europas zu den Schwerpunktländern der Schweizer Aussenpolitik. Seit der Krimkrise 2014 flossen mehr als 400 Millionen Franken an Hilfs- und Entwicklungsgeldern direkt oder über den Internationalen Währungsfonds ins krisengebeutelte Land am Schwarzen Meer.

Das Paket soll offiziell für «Stabilität» und «Wohlstand» sorgen – und zwar bis in die abgeschottete Region Donbass, die unter der Kontrolle der prorussischen Separatisten steht.

Damit ist die Schweiz das einzige Land der Welt, das auf beiden Seiten des Ukrainekonflikts Hilfe leistet. «Ohne OSZE-Vorsitzjahr und Neutralität wäre dies niemals möglich gewesen», sagt Benno Zogg. «Dennoch sollten wir die Rolle der Schweiz nicht überschätzen.» Die Eidgenossenschaft könne im Powerplay der Grossmächte momentan wenig ausrichten.

Cassis versucht es weiterhin

Ungeachtet dessen will Ignazio Cassis an die Ukraine-Erfolge seines Vorgängers anknüpfen und machte den Konflikt zum Schwerpunkt seines Präsidialjahrs.

Die Schweiz trumpfte im vergangenen Jahr bereits als Gastgeberin des Genfer Biden-Putin-Treffens auf. Und diesen Sommer will Cassis in Lugano TI eine Reformkonferenz für die Ukraine durchführen, mit bis 600 Vertretern aus fast 40 Staaten, darunter Ukraine-Präsident Wolodimir Selenski, die USA, Grossbritannien, Kanada und Südkorea.

Sie alle teilen den Wunsch, dass sich die Ukraine als unabhängiger Staat behaupten kann. Der Kreml stellt dies infrage. Doch die Ukraine-Konferenz, die auch schon in London und Toronto stattfand, hat bisher kaum zählbare Ergebnisse gebracht.

Tief sitzende Probleme

Beobachter wie Tim Guldimann, der damals als OSZE-Sondergesandter für die Ukraine dem Treffen zwischen Putin und Burkhalter beiwohnte, sagt über den Reformstau in der Ukraine: «Der angekündigte Weg, sich von einem korrupten, postsowjetischen System in eine demokratische Gesellschaft zu verwandeln, ist nie richtig in Gang gekommen.»

Daran werde auch die Konferenz in Lugano kaum etwas ändern. Guldimann: «Hier geht es nicht um Ideen und Expertisen, sondern um den fehlenden politischen Willen und um Machtfragen, die in diesem Format kaum zu lösen sind.»

Auch das Aussendepartement zeigt sich enttäuscht: Die Fortschritte seien langsamer als erhofft. Dennoch könne die Ukraine wichtige Reformerfolge vorweisen – vor allem wirtschaftlich und in der Korruptionsbekämpfung. So sähen es jedenfalls die «Akteure vor Ort».

2014 träumte die Schweiz vom Eintrag in die Geschichtsbücher. Längst sitzt sie im Ukraine-Konflikt wieder an ihrem angestammten Platz: als Dienerin hinter den Kulissen.

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