Darum gehts
Mit 23 Jahren war sie die erste Richterin im Iran und nahm begeistert am Aufstand gegen die Herrschaft des Schahs teil. Doch nach dem Sieg der Ayatollahs 1979 und der Einführung des islamischen Rechts wurde sie sofort ihres Amts enthoben. Seither hat Shirin Ebadi (78) den Kampf gegen das theokratische Regime in Teheran zu ihrer Lebensaufgabe gemacht.
Als Anwältin vertrat die Iranerin Gegner der Mullahs, Frauenrechtlerinnen und politische Gefangene, hielt Reden, schrieb Artikel, berichtete bei der Uno von den Missständen in ihrer Heimat und gründete das iranische Zentrum für Menschenrechte. 2003 erhielt sie als Kämpferin für Demokratie und Menschenrechte den Friedensnobelpreis – als erste muslimische Frau überhaupt.
Doch Shirin Ebadi zahlte dafür einen hohen Preis: Verhaftung, ständige Überwachung, Schikanen und Morddrohungen. 2009 sah sich die Menschenrechtlerin gezwungen, ins Exil zu gehen. Seither lebt Ebadi in London und spricht als eine der bekanntesten Stimmen der Widerstandsbewegung für die Regimegegner im Iran. Im Gespräch mit Blick kritisiert sie die Rolle der Europäer im Israel-Iran-Krieg und erklärt, wieso es ein Fehler wäre, das Regime der Mullahs mit militärischen Mitteln zu stürzen.
Blick: Wie war das für Sie, als Sie am Freitag vor einer Woche aufwachten und vom Angriff Israels auf den Iran erfuhren?
Shirin Ebadi: Ich war sehr traurig. Aber es war vorhersehbar. Die Islamische Republik hat diesen Krieg mit ihrem grenzenlosen Machtstreben ausgelöst.
Viele Regimegegner freuten sich zunächst über die Schläge gegen die Führung der Revolutionsgarden.
Verstehen Sie mich richtig: Meine Trauer galt nicht den getöteten Führungspersonen, ganz sicher nicht. Ich war traurig, weil ich die Tragweite erkannt habe, die dieser Krieg haben kann und wie die Bevölkerung darunter leiden würde.
Die Stimmung im Land kippte dann auch rasch: Tausende fliehen aus der Hauptstadt Teheran. Wie sehen Sie die derzeitige Lage im Iran?
Dieser Krieg kennt keine Gewinner. Die Verlierer sind Menschen, die getötet werden oder – wenn sie am Leben bleiben – für die Kriegsschäden bezahlen müssen. Es ist völlig klar: Das Regime von Ali Chamenei muss weg. Unter dem Diktat der Islamischen Republik wird es im Iran nie Frieden geben. Geht dieser Krieg zu Ende, wird der nächste folgen. Die Politik von Chamenei ist auf die Feindschaft gegenüber den USA und die Vernichtung Israels ausgerichtet. Der Schutz der eigenen Bevölkerung spielt dabei keine Rolle.
Wie meinen Sie das?
Es gibt im Iran keinen einzigen Schutzbunker für die Zivilbevölkerung, obwohl die Herrschenden seit Jahrzehnten von nichts anderem als vom Krieg sprechen. Es gibt nicht einmal Sirenen, die vor Luftangriffen warnen. Das Regime sagt den Menschen jetzt, sie sollen in Moscheen und U-Bahn-Stationen Schutz suchen. Nur: Eine Moschee bietet nicht mehr Schutz als ein gewöhnliches Wohngebäude – weshalb man ebenso gut zu Hause bleiben kann. Und die U-Bahn-Stationen werden um Mitternacht geschlossen, obwohl die Angriffe meistens in der Nacht geflogen werden.
Hinzu kommt, dass das Internet abgeschaltet ist. Es scheint, als ziehe Chamenei auch gegen das eigene Volk in den Krieg.
Das ist absolut richtig. Die Kluft zwischen der Staatsführung und der Bevölkerung wird seit Jahrzehnten immer grösser. Während dieser brutale Krieg läuft, werden täglich Dutzende verhaftet, weil sie Informationen über den Krieg veröffentlicht haben.
Was will das Regime damit bewirken?
Angst. Es soll Angst geschürt werden. Die Regierung hat das Veröffentlichen von Informationen oder Bildern über das Kriegsgeschehen verboten. Viele Journalisten wurden deshalb in den letzten Tagen abgeführt. Das Ziel ist, eine erneute landesweite Protestbewegung zu verhindern. Die Führung hat Angst vor der eigenen Bevölkerung und nimmt sie in Geiselhaft.
Mehr als vier Fünftel der Iraner lehnen das Regime ab. Sie selbst kämpfen seit mehr als 40 Jahren gegen die Herrschaft der Mullahs, die nun durch Israels Angriffe massiv geschwächt sind. Ist die Gelegenheit zum Umsturz gekommen?
Die Führung ist zwar geschwächt, aber sie ist immer noch stark genug, um die Menschen zu unterdrücken. Ich glaube nicht, dass sich das Regime allein durch militärische Interventionen stürzen lässt – die Mullahs werden bis zur letzten Rakete weitermachen. Die Iranerinnen und Iraner müssen jetzt zusammenhalten. Ich hoffe nach wie vor, dass es das Volk selbst sein wird, das die Regierung stürzt. Doch je länger dieser Krieg dauert, desto erfolgreicher behaupten die wenigen Regime-Anhänger, dass der Iran bei einem Umsturz in viele Teile zerbrechen und im Bürgerkrieg versinken würde.
Sie glauben, dass dieser Krieg der iranischen Widerstandsbewegung schadet?
Ein langer Krieg hilft dem Mullah-Regime. Er würde die Infrastruktur im Iran komplett zerstören und die Menschen zermürben, sodass sie sich eher wünschen, die Führung möge bleiben. Dieser Krieg muss gestoppt, dem Töten von Zivilisten ein Ende gesetzt und die Angriffe auf lebenswichtige Infrastrukturen müssen eingestellt werden – im Iran ebenso wie in Israel. Das ist nicht unser Krieg, nicht der Krieg des Iran, sondern der Islamischen Republik.
Die Israelis drohen unverhohlen, Ali Chamenei zu töten. Wäre sein Tod nicht eine Erlösung?
Die Existenz von Chamenei ist ein Gift für die Menschen im Iran. Ob sein Tod eine Erlösung mit sich bringen würde? Das muss sich zeigen – ich weiss es nicht.
Und persönlich? Die Regierung von Chamenei hat Sie 2009 ins Exil getrieben und Ihnen alles genommen: den Beruf, die Heimat, den Mann.
Die Schuld für das, was ich erleiden musste, trägt nicht nur eine Person, sondern ein despotisches, religiöses Regime.
Sie glauben nach all diesen Jahren und Jahrzehnten noch immer an eine friedliche Revolution. Wie soll die gelingen?
Indem die Menschen wieder in Massen auf die Strasse gehen, wie bei der Bewegung «Frau, Leben, Freiheit» im Herbst 2022. Dann wird das Regime fallen.
Die landesweiten Proteste nach dem Tod der kurdischen Iranerin Jina Mahsa Amini in Polizeihaft wurden brutal niedergeschlagen. Ebenso alle Aufstände zuvor. Weshalb sollte es diesmal anders sein?
Die Unzufriedenheit, die Wut in der Bevölkerung wird immer grösser, weil sich das Verhalten des Regimes kein bisschen verändert hat.
Auch Israels Premier Benjamin Netanyahu forderte vom iranischen Volk eine Rebellion.
Die Iranerinnen und Iraner sind schon viele Male gegen das Regime aufgestanden und sie werden es wieder tun. Nicht weil Netanyahu das fordert, sondern weil diese Führung nicht gewillt und in der Lage ist, etwas für die Menschen im Land zu tun. Weil die Korruption gewaltige Ausmasse hat, weil die Menschenrechte jeden Tag mit Füssen getreten werden. Wenn die Proteste weitergehen, wird das Regime ganz sicher zusammenbrechen. Entscheidend dafür ist das Internet.
Warum das Internet?
Um sich zu organisieren, müssen die Iranerinnen und Iraner Informationen austauschen können. Deshalb wurde das Internet nach Kriegsausbruch abgestellt.
Was erwarten Sie jetzt von den westlichen Staaten?
Sie dürfen sich nicht an die Seite des Mullah-Regimes stellen und es auf diese Weise stärken.
Das müssen Sie erklären.
Die Vertreter Deutschlands, Grossbritanniens und Frankreichs haben sich am Freitag in Genf mit dem iranischen Aussenminister zu Gesprächen getroffen. Dagegen protestiere ich, ebenso wie viele Menschen in Iran.
Wieso?
Die Europäer sollten von Teheran Zugeständnisse fordern, bevor sie bereit sind, mit der Regierung von Chamenei zu reden. Deutschland, Frankreich und Grossbritannien verfügen mit dem Snapback-Mechanismus über ein starkes Instrument, mit dem sie alle Uno-Sanktionen gegen den Iran, die 2015 ausser Kraft gesetzt wurden, wieder aktivieren könnten.
Sie sprechen von einer Versicherung dagegen, dass der Iran gegen das damals vereinbarte Atomabkommen verstossen sollte.
Die europäischen Staaten könnten beispielsweise sagen, dass sie auf eine Aktivierung des Mechanismus verzichten, wenn der Iran alle politischen Gefangenen freilässt. Doch solange der Westen die Augen zudrückt und mit Teheran verhandelt, während Menschen brutal getötet oder willkürlich ins Gefängnis geworfen werden, stellt er sich auf die Seite des Regimes.
Moment! Die Gespräche in Genf sollten den Weg zurück an den Verhandlungstisch ebnen. Es drohen ein Kriegseintritt der USA und eine viel grössere Eskalation. (Anmerkung der Redaktion: Die USA hat am frühen Sonntagmorgen Schweizer Zeit bei einem Angriff Irans Atomanlagen zerstört)
Das ist an sich sehr wichtig. Aber aus Sicht der iranischen Bevölkerung sollte der Westen Zugeständnisse für die unterdrückten Menschen einfordern, bevor er mit den Despoten verhandelt.
Oft heisst es, der Protestbewegung im Iran fehlten Führungsfiguren. Nun bietet sich mit Reza Pahlavi der Sohn und Erbe des Schahs von Persien an. Er würde nach einem Sturz der Mullahs gerne eine Übergangsregierung führen. Sie unterstützen Pahlavi. Aus welchem Grund?
Ich verstehe nicht, weshalb Sie mich das fragen.
Weil Sie vor der islamischen Revolution 1979 selbst für die Abschaffung der Monarchie und gegen den Schah protestiert haben. Reza Pahlavi sieht sich als Kronprinz, obwohl er seit mehr als 40 Jahren im US-Exil lebt.
Ja, ich habe damals wie Millionen andere Iranerinnen und Iraner an Demonstrationen gegen den Monarchen teilgenommen. Als ich einige Jahre später das Ergebnis davon in Gestalt der Islamischen Republik erlebt habe, erklärte ich öffentlich, einen Fehler gemacht zu haben. Das heisst aber nicht, dass meine Wahl für die Zukunft Irans auf die Monarchie fällt.
Sondern?
Das Wichtigste ist der Sturz des Regimes. Danach soll ein freies Referendum unter Beobachtung der Vereinten Nationen stattfinden. Damit die Menschen im Iran frei wählen können, welche Staatsform sie in Zukunft haben möchten.
Wenn Sie für einen Tag die absolute Macht im Iran hätten – was wäre die erste Entscheidung, die Sie treffen würden?
Ich würde die Führer der Islamischen Republik vor Gericht stellen.