Wenn Millionen Beschäftigte heute eine Frage umtreibt, dann ist es diese: Habe ich Ende Jahr meinen Arbeitsplatz noch? Denn die zweite Welle heisst derzeit nicht Corona, sondern Jobverlust.
In diesen Wochen vergeht kaum ein Tag, ohne dass ein internationaler Konzern Sparpläne veröffentlicht, Entlassungen ankündigt. Auch in der Schweiz, wo man sich während des Shutdowns dabei noch zurückhielt. Aktuell trifft es Unternehmen der Reisebranche. Aktuelles Beispiel: Hotelplan.
Doch nicht nur die Migros-Tochter setzt den Rotstift an. Unternehmen querbeet durch alle Branchen fahren nach dem Lockdown die Kosten herunter und wälzen Abbaupläne. Das bestätigt Andreas Rudolph (56): «Wir verzeichnen seit drei Wochen ein deutliches Anziehen der Nachfrage von Firmen nach Outplacement-Unterstützung, die eine Restrukturierung durchführen müssen.»
Stellenanzeigen brechen ein
Rudolph ist Chef von Lee Hecht Harrison Schweiz (LHH), einer Tochter des Arbeitsvermittlers Adecco. Er bekommt als einer der Ersten mit, wenn der Wirtschaftsmotor stottert. Anfang dieser Woche meldete Adecco einen Einbruch der Stelleninserate im zweiten Quartal 2020 um 27 Prozent. Überdurchschnittlich betroffen sind das Gastgewerbe und persönliche Dienstleistungen, etwas weniger stark Berufe im Bau und Ausbau.
«Die Zahl offener Stellen bricht ein, gleichzeitig steigen die Entlassungen. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschärft sich zusehends», sagt Rudolph. Konkret erwartet er, «dass die Entlassungswelle nach den Sommerferien in der zweiten Hälfte des dritten Quartals kommt».
Outplacement-Center sind gefragt
Gerade jetzt in der Corona-Krise ist seine Hilfe darum gefragter denn je. Doch der Höhepunkt kommt erst noch! «Wir gehen von einer weiteren Verschärfung der Lage am Arbeitsmarkt aus, wenn die Kurzarbeit bei den Betrieben ausläuft.» Diese werde «drastisch» ausfallen. «Denn dann ist mit einem zusätzlichen Stellenabbau zu rechnen.» Der Arbeitsmarkt gerate zusätzlich unter Druck.
Mehr zu Entlassungen
Vor Corona herrschte praktisch Vollbeschäftigung in der Schweiz. Mit dem fast paradiesischen Zustand ist laut dem Outplacement-Experten für die nächste Zeit Schluss. Rudolph: «Gemäss unserer Einschätzung werden wir in der Schweiz über einen längeren Zeitraum eine Arbeitslosenquote von 4,1 bis 4,3 Prozent haben.» Die Arbeitslosigkeit dürfte folglich über die nächsten ein bis zwei Jahre doppelt so hoch sein wie vor der Corona-Pandemie.
Ende Mai zählte der Bund 155’998 Arbeitslose in der Schweiz. Die Zahlen vom Juni liegen noch nicht vor. Für das Gesamtjahr wird mit weit über 200'000 Arbeitslosen gerechnet. Wenn das schlimmste Szenario eintritt, sind es sogar deutlich über 300'000 Personen.
Ältere Arbeitslose sind hart dran
Wen trifft es jetzt zuerst? «Im Moment können wir noch kein Muster erkennen. Es trifft Kaderleute wie auch weniger Qualifizierte», sagt der Experte. «Von Dienstleistungsbetrieben über die klassische Industrie bis hin zu Gewerbetreibenden – alle Branchen sind dabei.»
Hart dran sind besonders ältere Angestellte. Andreas Rudolph berät aktuell einige Betroffene, die den blauen Brief bekommen haben. «Für diese Leute bricht eine Welt zusammen», weiss er. «Wir können nun nur hoffen, dass es nicht ganz so schlimm kommt wie von den Konjunkturforschern und Ökonomen prognostiziert.»