Zweifelhafte Adoptionen in Sri Lanka – Vermittler schockiert
«Man konnte auf Bestellung ein Kind ‹kaufen›»

Pedro Sutter wurde vor 40 Jahren Nachfolger der berüchtigten Adoptionsvermittlerin Alice Honegger – und kündigte nach einer schockierenden Reise gleich wieder. Seine Schilderungen sind erschütternd.
Publiziert: 28.12.2023 um 10:21 Uhr
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Aktualisiert: 28.12.2023 um 18:20 Uhr
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«Es war ganz klar eine kommerzielle Vermittlung von Kindern», sagt Pedro Sutter zu umstrittenen Adoptionen in Sri Lanka.
Foto: Samuel Schalch
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Otto Hostettler
Beobachter

Herr Sutter, Sie übernahmen 1984 die Adoptionsvermittlung von Alice Honegger. Wie kamen Sie dazu?
Ich war damals auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit, und die Stelle war ausgeschrieben. Ich hatte zwar keine Erfahrung mit Kindern, und das Adoptionswesen war komplett neu für mich. Aber ich war an fremden Kulturen interessiert. Als ausgebildeter Sozialarbeiter brachte ich die nötigen Qualifikationen mit, damit der Verein vom Kanton die Bewilligung für die Vermittlung von Adoptivkindern erhielt.

Nach wenigen Monaten kündigten Sie die Stelle schon wieder. Warum?
Kurz nach dem Beginn meiner Tätigkeit unternahm ich eine Reise nach Sri Lanka. Da wurde für mich schnell klar, dass diese Adoptionen illegal und unethisch waren. Ich konnte nicht dahinterstehen und wollte nicht länger mitmachen.

Wie liefen diese Adoptionen ab?
Ich habe in Sri Lanka verschiedene Institutionen und involvierte Personen besucht. Für Alice Honegger war eine Anwältin entscheidend, die vor Ort alles organisierte, was für die Adoption nötig war. Also Geburtsscheine, Bewilligungen, Reisedokumente et cetera. Ehepaare aus der Schweiz kauften für 1000 Dollar ein sogenanntes Package. In diesem Preis war alles inbegriffen ausser der Flugreise.

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Was war für Sie problematisch bei diesen Adoptionsvermittlungen?
Es war ganz klar eine kommerzielle Vermittlung. Bei meinen Gesprächen dort realisierte ich, dass es in Sri Lanka nur ganz wenige Kinder gab, die für eine Adoption ins Ausland in Frage kamen. Aber die besagte Anwältin vermittelte jeden Monat etwa 25 Kinder ins Ausland. Pro Jahr waren es etwa 270. Für jedes Kind kassierte sie 1000 Dollar. Sie wurde durch die Vermittlung von Babys reich. Diese Adoptionsvermittlung war ein Geschäft, man konnte auf Bestellung ein Kind «kaufen». 

Woher kamen die Babys?
Es war nie ganz klar, woher sie kamen und unter welchen Umständen sie zur Adoption weggegeben wurden. Oft waren es Kinder von ledigen Müttern, die arm waren und durch die Adoption etwas Geld erhielten. Es wurden aber auch Kinder «bestellt», ausgetragen und verkauft. Es gab auch Frauen, die den neuen Eltern ein Kind übergaben, aber gar nicht die leiblichen Mütter waren. Bei staatlichen Stellen und in Kinderheimen sagte man mir, es sei gar nicht möglich, dass so viele Kinder aus Sri Lanka auf legalem Weg zur Adoption in den Westen gelangen konnten. Zudem gab es in Sri Lanka schon damals staatliche Angebote für ledige Mütter, damit sie ihre Kinder nicht zur Adoption freigeben mussten.

Damals verfassten Sie einen Bericht über Ihre Reise und erwähnten, dass die Mütter ihre Kinder einem Gericht übergeben mussten.
Ja, ich war an einer solchen Gerichtsverhandlung. Da war auf der einen Seite eine Gruppe von Müttern, die ihre Babys vor den Augen des Gerichts den neuen Eltern übergeben mussten. Das waren erschütternde Momente.

Warum mussten die Mütter ihre Babys dem Gericht übergeben?
Das Gericht sorgte angeblich dafür, dass alles korrekt ablief. Aber es war offensichtlich, dass die Anwältin vor Ort die Behörden bestochen hatte. In der Zeit, in der die Mütter auf den Gerichtstermin warten mussten, hatten sie von der Anwältin eine Unterkunft zugeteilt erhalten. Ich sah eine solche Unterkunft, in der sechs Mütter mit ihren Babys untergebracht waren. Das war ein ganz einfaches Zimmer, nur ein paar Quadratmeter gross und mit Matratzen am Boden. Dazu minimale ärztliche Betreuung. Da lebten diese Mütter etwa drei bis vier Wochen. Bis zur Übergabe der Kinder.

Wie lief das Prozedere für die Adoptiveltern aus der Schweiz ab?
Die Ehepaare kamen aus der Schweiz nach Sri Lanka. Etwa eine Woche nach der Ankunft konnten sie das Kind kurz besuchen, also quasi besichtigen. Anschliessend konnten sie eine Woche durchs Land reisen, Ferien machen. In dieser Zeit organisierte Alice Honeggers Anwältin vor Ort alles Nötige, auch die Reisedokumente. Dann mussten die neuen Eltern zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder in der Hauptstadt Colombo sein für die Übergabe der Babys vor Gericht.

Wer war für dieses «Geschäft» mit Babys verantwortlich?
Damals kontaktierten viele Paare unsere Vermittlungsstelle in St. Gallen, weil sie unbedingt ein Kind wollten. Aber in den 1980er-Jahren gab es in der Schweiz fast keine Kinder für eine Adoption. Die Paare hätten lange warten müssen, womöglich mehrere Jahre. So wünschten sie sich, ein Kind aus dem Ausland zu adoptieren. Meistens klappte es innerhalb weniger Monate. 

Wie haben Sie Alice Honegger erlebt? Arbeitete sie uneigennützig?
Sie war überzeugt, sie mache alles für das Wohl des Kindes. Aber im Nachhinein gesehen war sie eine knallharte Geschäftsfrau.

Wie war es, mit ihr zu arbeiten?
Ich habe nicht direkt mit ihr zusammengearbeitet. Ich wurde damals angestellt, um die Vermittlungsstelle weiterzuführen. In ihrem Haus, wo sie ein Büro hatte, war ich nur zweimal. Das war bei der Übergabe von Dokumenten. Dort herrschte eine düstere, beklemmende Atmosphäre. Diese ersten Kontakte mit ihr waren für mich nicht positiv. Überall waren Akten, Regale voller Ordner bis unter das Dach. Ich denke, sie war ein Messie.

Als Sie aus Sri Lanka zurückgekehrt waren, verfassten Sie einen Bericht. Was war Ihr Fazit?
Mein Fazit war, dass ich so nicht weitermachen wollte. Ich lehnte diese Art von privater, also wirtschaftlicher Adoptionsvermittlung ab. Dazu machte ich Vorschläge, wie wir über staatliche Stellen Kinder vermitteln könnten. Doch dadurch wären viel weniger Kinder für eine Adoption in Frage gekommen, und es hätte für die Adoptiveltern viel länger gedauert, bis sie ein Kind hätten adoptieren können. Ich schlug vor, dass wir die Familien hier in der Schweiz besser nachbetreuen. Denn es gab in den neuen Familien auch Probleme. Etliche dieser Kinder konnten nicht bei ihren Adoptiveltern bleiben und mussten fremdplatziert werden, etwa im Pestalozzidorf Trogen. 

Wie reagierte der Vorstand des Vereins auf Ihre Vorschläge?
Der Vorstand ging nicht darauf ein und argumentierte, man habe keine Einnahmen mehr, wenn man auf die Vermittlung von Babys aus dem Ausland verzichten würde.

Aus Dokumenten von Betroffenen wird klar, dass Ehepaare für die Adoptionsvermittlung bezahlen mussten. Rechnungen sind aber in den Akten nicht enthalten.
Es ist offensichtlich, dass Vermittlungsgebühren gezahlt wurden. Ich musste selbst solche Rechnungen stellen. Der Verein lebte von diesen Vermittlungsgebühren.

Warum wollte der Vorstand diese fragwürdigen Adoptionsvermittlungen nicht stoppen?
Weil alle im Vorstand betroffen waren. Alle hatten mithilfe von Alice Honegger Kinder adoptiert. Ich habe meinen Bericht dem Vorstand vorgelegt und hatte dann ein Gespräch mit dem Zuständigen des kantonalen Vormundschaftsamts. Da habe ich klargemacht, dass ich meine Tätigkeit für den Verein beende, wenn sich nichts ändere. Er versicherte mir, dass der Verein in diesem Fall keine Bewilligung mehr erhalten werde. Im Nachhinein betrachtet, war ich damals naiv, da ich davon ausging, dass der Bericht an die kantonalen Aufsichtsstellen weitergeleitet wird.

Mit Ihrem Rückzug ermöglichten Sie, dass Alice Honegger ihre eigene Nachfolge antreten konnte und noch jahrelang tätig war.
Als ich das Jahre später erfuhr, war das sehr frustrierend für mich.

Mitarbeit: Alessia Cerantola, Leslie Knott 

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