Die ersten Bilder erreichten die Schweiz bereits 1982: Singhalesische Mütter posieren mit ihren Neugeborenen in einem Heim. Ihre Blicke sind leer. Dann Dutzende von Paaren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich, die in einem Gerichtssaal auf jenen Bescheid warten, der es ihnen erlaubt, das frisch erstandene Kind mit nach Hause zu nehmen. «Babys zu verkaufen» betitelte die «Schweizer Illustrierte» die Reportage. Damals sah alles noch nach einem grausamen Geschäft einer sri-lankischen Mafia aus: Handel mit Adoptivkindern. Doch heute steht fest: Die Schweiz und Schweizer steckten tief mit drin in diesem Handel – mit gestohlenen Kindern, vorgetäuschten Kindstoden und unzähligen getäuschten Müttern.
Ein Bericht mit dem Titel «Adoptionen von Kindern aus Sri Lanka in der Schweiz 1973–1997» zeigt zum ersten Mal das ganze Ausmass auf: Schweizer Eltern adoptierten 881 Kinder aus Sri Lanka. Bei vielen Adoptionen ging es nicht mit rechten Dingen zu. Und die Schweizer Behörden versagten auf allen Ebenen. Innerhalb eines Jahres hat ein Team von Forscherinnen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Auftrag des Bundesamts für Justiz dieses dunkle Kapitel aufgearbeitet.
St. Gallen, Genf und Bern gehörten zu jenen Kantonen mit den meisten Adoptionen aus Sri Lanka. Der Bericht zeigt, dass in der Regel die untersuchten Dossiers nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprachen. Oft konnten die Eltern keine Zustimmungserklärung der leiblichen Eltern aus Sri Lanka vorweisen, die belegte, dass diese ihr Kind aus freien Stücken aufgegeben haben. Allein deshalb hätten die Kantone die Adoptionen nie bewilligen dürfen.
Erleichterung bei den Adoptierten
Sarah Ineichen (39) kämpft als Präsidentin von Back to the Roots, der Interessenvertretung für Adoptierte aus Sri Lanka, für eine Aufarbeitung. «Endlich steht es schwarz auf weiss, dass uns Adoptierten unrecht getan wurde», sagt sie gegenüber BLICK. Es sei aber schwierig zu akzeptieren, dass geltende Gesetze so offensichtlich nicht eingehalten worden seien.
Für sie und andere Adoptierte ist das verheerend: Oft haben sie keine Geburtsurkunden. Wenn doch, sind sie mit erfundenen Namen von Müttern versehen. Oder mit solchen von Schauspielerinnen, die Geld für ihre Unterschrift bekamen. «Wegen der fehlerhaften Unterlagen ist es für uns sehr schwierig, unsere leiblichen Mütter zu finden.»
Wie es soweit kommen konnte, zeigt ein Blick in die Achtzigerjahre. In der Schweiz dauerte ein Adoptionsverfahren mehrere Jahre. Die Paare wurden von den Behörden auf Herz und Nieren geprüft. Ein Viertel der Adoptionswilligen bekam kein Kind, weil sie als untauglich galten.
In Sri Lanka dauerte der Prozess nur wenige Wochen. Wer genug zahlte, kam unkompliziert zu einem Kind. Dank eines ausgeklügelten kriminellen Systems.
Die Schweizer Paare wandten sich hierzulande an Adoptionsvermittlerinnen wie die St. Gallerin Alice Honegger oder an hierzulande tätige sri-lankische Anwälte wie Dawn Da Silva. Sie waren die beiden umtriebigsten Strippenzieherinnen für die Schweiz. Beide organisierten die Babys über Mittelsleute in Sri Lanka. Diese arbeiteten mit privaten Heimen, Spitälern oder sogenannte Baby-Farms zusammen, wo Säuglinge an Ausländer aus der Schweiz, Deutschland oder Holland verkauft wurden. Das Geschäft war hoch lukrativ: Pro Kind verdienten Da Silva und Honegger zwischen 10'000 und 15'000 Franken.
Babys auf Bestellung
Wie die Vermittlerinnen zu den Kindern kamen, war haarsträubend. 1982 berichtete eine sri-lankische Ordensfrau der «Schweizer Illustrierten», «dass man bei bestimmten Agenten auch Kinder bestellen kann, die noch gar nicht gezeugt worden sind. Sobald die ‹Bestellung› vorliegt, wird ein Mädchen, das mit dem Geschäft einverstanden ist, geschwängert und liefert nach neun Monaten die Ware ab».
In anderen Fällen sagten Krankenschwestern den Frauen kurz nach der Entbindung fälschlicherweise, dass ihr Kind gestorben sei. Oder Grossmütter und Nachbarn stahlen den Müttern ihr Kind. Nur um es an Kinderhändler zu veräussern.
1987 hoben die sri-lankischen Behörden die ersten Baby-Farmen aus und räumten gegenüber den einmischen Medien ein, dass Anwälte, Polizisten, Verwaltungsangestellte sowie Spital- und Hotelpersonal in einen illegalen Handel mit Kindern verwickelt waren.
Die offizielle Schweiz wusste aber schon viel früher Bescheid. Die meisten Paare reisten nach der «Bestellung» in der Schweiz ins Inselparadies, um das Kind abzuholen. Das und Berichte in Sri Lanka machten den Schweizer Botschaftsvorsteher stutzig, er hörte sich um. 1982 warnte er das Bundesamt für Ausländerfragen: In der Hauptstadt Colombo würden Frauen in die Hände von «luschen Schleppern» fallen, die ihnen das Kind abnehmen. Er sprach von Agenten, die zu einem «korrupten Milieu» gehören. Aus der Schweiz sei ihm eine Person bekannt, die als Vermittlerin vor Ort tätig sei: Alice Honegger.
Kinderhändler wurden nie belangt
Der aktuelle Bericht zeigt jetzt: Das Bundesamt für Ausländerfragen wusste auch über Dawn Da Silva bestens Bescheid, wie ein Schreiben von ihm an die Kantonsbehörden zeigt.
Der Bund informierte auch den zuständigen Kanton St. Gallen über Alice Honegger. Trotzdem erlaubte der Kanton ihr bis in die Neunzigerjahre, Adoptivkinder zu vermitteln.
Weder Honegger noch Da Silva wurden je zur Rechenschaft gezogen. Honegger starb 1997, Da Silva lebt heute unbehelligt in Sri Lanka, wie ein SRF-Dokumentarfilm herausfand.
Das abschliessende Urteil des Berichts ist deutlich: Nach allem, was die Bundesbehörden der Schweiz wussten, erwogen sie nicht, «einen generellen und dauerhaften Adoptionsstopp für Kinder aus Sri Lanka zu erlassen».
Nun ist der Bundesrat am Zug. Er nimmt bis Ende Jahr Stellung. Back to the Roots fordert von ihm Wiedergutmachung.
Hilfe für Betroffene: www.backtotheroots.net