Die Tageszeitung «Die Tat» bezeichnete sie 1953 als «erfahrene Fürsorgerin». Die Zeitschrift «Femina» schilderte sie 1972 als «Wohltäterin». Auf den ersten Blick sind die Urteile glaubhaft: Alice Honegger (1915–1997) betätigte sich ihr Leben lang als Vermittlerin von Adoptionskindern. «Für jedes Kind gibt es Eltern», sagte sie einmal.
Honegger kümmerte sich um alleinstehende Schwangere, gründete eine Vermittlungsstelle für Adoptivkinder, beglückte kinderlose Paare, nahm Müttern in Not die Bürde der Kindererziehung ab. Sie sass an der Schnittstelle des Familienglücks. Auf den ersten Blick.
Hinter der Fassade der Wohltäterin aber betrieb die ausgewiesene Fürsorgerin ein skrupelloses Geschäft mit der Hoffnung: Sie bereicherte sich persönlich, umging behördliche Vorgaben.
Mittelsmänner stehlen Neugeborene
1964 verliert Alice Honegger ihre Arbeit. Der Vorwurf: Sie «verschachere» Kinder, denke nicht an das Wohl ihrer Schutzbefohlenen. Honegger lässt sich nicht beirren, im Gegenteil. Im gleichen Jahr eröffnet sie ein Mütter heim in Bollingen SG. Überforderte Frauen, junge Schwangere, alle wenden sich an sie. Empfinden sie als «durchweg positiv». Im Hintergrund aber bröckelt ihr Imperium. Eine Hebamme beklagt unhaltbare Zustände im Mütterhaus. Junge Frauen erheben Vorwürfe, sie seien von Honegger finanziell betrogen worden. Es gehe nur ums Geld.
1973 wird die Aktivität der damals 58-Jährigen durch neue Gesetze erschwert. Nun gelten schärfere Bestimmungen. Für Adoptionen aus dem Ausland ist eine Sonderbewilligung nötig. Honegger verschafft sie sich. Wie sie vorgeht, vor allem im armen Inselstaat Sri Lanka, schockiert noch heute. Ihre Mittelsmänner verkehren in korrupten Milieus, verleiten junge Frauen gegen Entgelt zur Schwangerschaft. Oder sie stehlen die Neugeborenen. Den leiblichen Müttern sagen sie, ihr Kind sei tot. Das alles, um die sri-lankischen Babys für Unsummen an kinderlose Paare in der Schweiz zu verkaufen. Pro Kind verdient Honegger bis zu 15'000 Franken.
Interpol schaltet sich ein
Doch das Misstrauen wächst. Die St. Galler Kantonspolizei entzieht ihr 1982 die Bewilligung. Sogar Interpol schaltet sich ein. Aber auch hier reagiert sie nach gewohntem Muster: Honegger beschwört ihre Unschuld, sieht sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Und erhält die Bewilligung zurück. Fünfzehn weitere Jahre geschäftet Alice Honegger in Sri Lanka. Die St. Galler Behörden, der Bund, aber auch Interpol drücken wiederholt ein Auge zu, schauen weg – so viel ist im Nachhinein klar.
Erst 2017 leitet der Bund Untersuchungen zur Aufarbeitung der umstrittenen Adoptionspraxis ein. Da ist Honegger allerdings schon seit 20 Jahren tot. Und die Aufarbeitung noch lange nicht beendet. Die Kinder von damals haben heute mehr Fragen denn je.