Zwei Unternehmer erzählen von ihrem Schicksalsschlag
Vom absoluten Tief zum Triumph – der Pharma-Manager und die Bankerin

Arnaud Muller und Sandra Dadinger waren beide Erfolgsmanager: er Pharma, sie Banken. Dann traf sie ein Rückschlag. Aber sie erfanden sich neu.
Publiziert: 27.12.2024 um 11:15 Uhr
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Aktualisiert: 27.12.2024 um 11:29 Uhr
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Pharmamanager Arnaud Muller ...
Foto: Salvatore Vinci salvatorevinci.com

Auf einen Blick

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Holger Alich
Handelszeitung

Der Mann sieht aus, als könne ihn nichts umhauen. Breites Kreuz, kantiger Schädel, aus dem helle, freundliche Augen schauen. Gestatten: Arnaud Muller. Der gebürtige Franzose hat sein ganzes Leben hart gearbeitet, sehr hart. Und dabei gut verdient. «In besten Zeiten verdiente ich fast eine halbe Million im Jahr», erzählt Muller, der in der Schweiz eine steile Karriere im Pharmasektor hingelegt hat. 

Alle Ampeln standen auf Grün. Bis dann eine auf Rot schaltete: Seine Gesundheit machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Muller gab sein altes Managerleben auf. Und beginnt nächstes Jahr mit etwas komplett Neuem: einer Karriere als Gastgeber. Muller wird den Betrieb einer kleinen Ferienhaussiedlung im Südosten Frankreichs übernehmen, genauer gesagt in den Cevennen, dem Berggebiet nördlich von Montpellier.

Ein Unfall kann der Beginn eines neuen Kapitels sein.

Muller erzählt offen und ruhig, er weicht keiner Detailfrage aus. «Mir ist wichtig, meine Geschichte zu erzählen», sagt der dreifache Vater, «denn ein Unfall, das ist nicht das Ende der Welt, das kann vielmehr der Beginn eines neuen Kapitels sein.» Seine zweite Botschaft: Geld ist nicht alles. Wichtiger sei es, ein Projekt zu haben, das einen erfülle.

Aber der Reihe nach: Bis zu seiner Erkrankung kannte der 58-Jährige nur eine Richtung: nach oben. Nach dem Wirtschaftsstudium heuerte er bei einer Tochter des französischen Chemie- und Pharmariesen Rhône-Poulenc an, der später in Sanofi aufging. «Mit 25 Jahren reiste ich durch die gesamte Asien-Pazifik-Region, von Indien bis Japan, bis nach Australien und Neuseeland, um chemische Produkte und Laborausrüstungen zu verkaufen», erzählt er. Die meisten Luxushotels der Region kennt er von innen. 

Bei mir war es nicht fünf vor zwölf, sondern eine Minute vor zwölf.

Mullers Arbeitgeber wurde dann von der deutschen Merck übernommen, seine Karriere ging weiter: Denn der deutsche Konzern förderte ihn, zahlte ihm ein MBA-Aufbaustudium. Eine Anstellung beim Schweizer DKSH-Konzern führte ihn schliesslich 2005 in die Schweiz. Danach wurde er CEO des damals auf Dermatologie und Gynäkologie spezialisierten Luganer Pharmaunternehmens Contrad Swiss. 

Den Job machte er drei Jahre lang und wirkte dann als Co-Gründer von Nemis Technologies. Die Firma brachte eine Technologie zur Marktreife, die ursprünglich von der Universität Tel Aviv entwickelt worden war. «Damit können Unternehmen der Lebensmittelindustrie Bakterien in den Produktionsanlagen aufspüren», erklärt Muller. Beispielsweise setzen die Sushi-Kette Yooji’s, die Züricher Metzgerei Angst und die schottische Lachsräucherei St. James Smokehouse diese Technik ein. Nach knapp fünf Jahren stieg er aus, um sich als Unternehmensberater selbständig zu machen. 

Doch dann kamen die gesundheitlichen Probleme: Druck auf der Brust, Atemnot. Die Diagnose kam im Februar – und schien fatal: «Meine vier Hauptaterien waren fast alle zu», erzählt Muller. «Es war bei mir nicht fünf vor zwölf, sondern eine Minute vor zwölf.»

Arnaud Muller, Ex-CEO und Co-Gründer Nemis Technologies.
Foto: Salvatore Vinci salvatorevinci.com

Drei Tage nach der Diagnose lag er auf dem OP-Tisch. Dank dem Einsatz von gleich vier Bypässen überlebte er. «Das Schweizer Gesundheitssystem habe ich wirklich zu schätzen gelernt», sagt er mit ernster Miene.

Es folgten drei Wochen Reha in Graubünden. Berge, gute Luft – und viel Zeit zum Nachdenken. War es das alles wert? «Mir war klar, dass Stress solche Herz-Kreislauf-Probleme begünstigt», sagt Muller.

Aber wie weiter: Schon in die Rente? Mit 58? «Das kam für mich nicht infrage», sagt der Erfolgsmanager mit fester Stimme. Aber zurück ins Hamsterrad mit Führungsaufgaben, Reisen, Budgetdruck und Stress? Lieber nicht. 

Schritt für Schritt nahm ein alter Lebenstraum neue Form an: «Ich hatte schon seit fünf oder zehn Jahren den Traum, mich im Bereich Hospitality selbstständig zu machen. Und dank meiner Erkrankung wurde mir klar: Jetzt oder nie.»

Zuerst wollte der Pharmamanager einen Campingplatz übernehmen, doch die Idee verwarf er wieder: da hängt dann wieder Personal, viel Geld und damit Stress dran. Schliesslich stiess er auf ein Anwesen im französischen Departement Gard, zwischen Avignon und Montpellier: vier kleine Ferienhäuser, 55'000 Quadratmeter Grund, ein Wald, ein Fluss und eine eigene Wasserquelle. Das Ganze für eine halbe Million Euro.

Neustart in den Bergen: In der Region der Cevennen nördlich von Montpellier startet Arnaud Muller als Betreiber einer Ferienhaussiedlung.
Foto: ZVG

«Den Kaufpreis konnte ich locker bezahlen, da ich mein Haus in der Schweiz mit einem schönen Gewinn verkaufen konnte.» Zudem hat Muller Zeit seines Lebens gespart, finanziell muss er nicht gleich von den Einnahmen aus dem Mietbetrieb leben. Das Geld reicht, um die vier Häuser erst einmal in Schuss zu bringen. «Und den grössten Teil davon mache ich selbst.» Selbst Handanlegen, das ist sein Ding. Im Frühling will er die ersten Gäste begrüssen. 

Hat er keine Sorge vor dem finanziellen Abstieg? «Geld ist mir nicht wichtig und in Frankreich kann man sehr gut mit 3000 oder 4000 Euro im Monat leben.» Wenn durch die Vermietung der Ferienhäuser zwischen 40’000 und 50’000 Euro im Jahr reinkommen, geht die Rechnung auf. Dabei will Muller nur von April bis Oktober vermieten. Ende 2024 geht der Umzug über die Bühne. 

Und was sagt die Familie? «Meine Kinder sind alle in Grossbritannien und meine Frau ist Flugbegleiterin, die ist daher sowieso viel unterwegs. Und hat mich bei meinem Projekt zu 100 Prozent unterstützt.» Schliesslich sei die Flugbegleitung auch eine Art Hospitality. 

Sein Neustart in Frankreich stellt für ihn auch keinen Rückschritt dar, im Gegenteil: Er setzt seinen Traum um. «Ich habe meinen Kindern eine Lektion mitgegeben: Niemals nach hinten schauen, immer nach vorne.» 

Wie die Flucht aus dem Hamsterrad gelang

Das ist auch das Motto von Sandra Dadinger. Wenn die Marketingmanagerin einen Job-Ratschlag für junge Menschen hat, dann diesen: «Probiert aus, macht verschiedene Sachen, lasst euch nicht zu schnell in eine bestimmte Karriere hineinpressen.»

Sandra Dadinger, Marketing-Managerin, die den Sprung in die Selbstständigkeit geschafft hat.
Foto: ZVG

Die Österreicherin, die heute selbstständig arbeitet, hat dies auf die harte Tour gelernt. Denn es hat sie erheblichen Mut gekostet, ihre erfolgreiche Managerlaufbahn zu beenden, um dem Hamsterrad zu entfliehen. Und um Neues zu wagen. «Ich würde das heute mit 19 machen und nicht mit 38», erzählt sie. 

Ihre Geschichte geht so: «Ich komme aus einer Unternehmerfamilie, Arbeit zählt zu unserer DNA», sagt sie und ihre Stimme klingt dabei ganz fröhlich. Der Vater hatte eine Tochterfirma von Siemens in Österreich geleitet, der Stiefvater ein Bauunternehmen, der Cousin einen Installationsbetrieb und ein anderer Cousin eine eigene Metzgerei. 

Nach der Schule träumte sie davon, Stewardess zu werden. «Aber mein Vater hatte Angst davor, dass er eines Tages mit Geschäftsfreunden im Flieger sitzt und seine Tochter ihnen die Bloody Mary serviert», erzählt sie und lacht. 

Ich hatte mir Zürich freundlicher vorgestellt.

Die Tochter sollte also «etwas Anständiges» studieren, Jus oder Wirtschaft. Sie entschied sich für Letzteres und begann ihre Laufbahn bei der Unternehmensberatung KPMG im Marketing in Wien.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

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«2010 wechselte ich zur Zürcher Kantonalbank und habe bei der Private-Banking-Tochter in Österreich das Marketing aufgebaut.» Das war ihr erster Job mit Führungserfahrung, denn als Marketingverantwortliche fing sie dort als One-Women-Show an, als sie sechs Jahre später ging, umfasste das Team vier Personen.

Wegen ihres damaligen Lebensgefährten zog sie 2016 in die Schweiz. Und erlebte einen doppelten Kulturschock. «Ich kam aus Salzburg am Zürcher Hauptbahnhof voller Erwartungen an», erzählt sie und holt beim Reden kaum Luft, «ich hatte mir das alles irgendwie freundlicher und gemütlicher vorstellt.» Doch in der Schweizer Hauptstadt des Kapitals ist Zeit eben Geld: Niemand bleibt stehen, die Leute hetzen quer durch die Halle, Hektik pur, so ihr erster Eindruck von Zürich.

Und bei ihrem neuen Arbeitgeber, dem Schweiz-Ableger des dänischen Online-Brokers Saxo Bank, hat sie «ein kleines Finanzmarktschleudertrauma» erlebt, wie sie es nennt.

Ich wusste manchmal nicht, ob Sonntag oder Montag ist.

Statt im Private Banking arbeitet sie nun im Retail-Geschäft, und das auch noch im hochdrehenden Online-Trading. «Der Druck war wahnsinnig hoch, wir haben sehr viel leisten müssen». Auch das Marketing wurde zum Beispiel mit bezifferten Vorgaben daran gemessen, wie viele Neukunden die Bank gewinnen konnte. Doch wegen technischer Pannen stand die Bank in den Medien einige Mal am Pranger.

So gross der Druck auch war, ihr Team war solidarisch und wurde zu einer verschworenen Gemeinschaft, «es war die beste Zeit, die ich der Schweiz hatte», erzählt sie. Freundschaften entstanden, die bis heute halten.

2020 bewirbt sie sich bei Julius Bär. Dadinger soll helfen, die Marktstellung der traditionsreichen Privatbank im Deutschschweizer Heimatmarkt zu stärken. Dabei wird sie quasi als Marketing-Allzweckwaffe eingesetzt. «Ich habe digitales Marketing gemacht, Events organisiert und auch klassische Werbung verantwortet», erzählt sie. 

Jetzt hast du deine Karriere an die Wand gefahren.

Die Budgets sind knapp, die Arbeitslast hoch. Tage mit 12 oder 14 Stunden sind keine Seltenheit, durchgearbeitete Wochenenden auch. «Ich wusste manchmal nicht, ob Sonntag oder Montag ist.»

Ein persönlicher Schicksalsschlag änderte ihre Sicht auf ihr Leben. «Ich wollte und musste einfach etwas kürzertreten.» Doch das ging nicht. «Es hat dann so einen Schlüsselmoment gegeben», erzählt sie. «Ich war in Engelberg bei einer Kundenveranstaltung. Und ich rief meinen Vorgesetzten an, dass es so für mich nicht mehr weiter geht. Als ich auflegte, dachte ich: Jetzt hast du deine Karriere an die Wand gefahren.»

Denn einen Plan B hatte sie nicht. Sie war 38, fern der Heimat und fiel erst einmal in ein Loch «Das Einzige, was ich wusste, war, dass mein Plan A nicht mehr funktionierte.» Jobangebote hatte sie keine, nicht mal Ideen, wo und ob sie sich irgendwo bewerben sollte. 

Zwei Monate nach dem Anruf in Engelberg war sie bei der Bank. Aber die «Trauerphase», wie sie es nennt, dauert nicht allzu lange. Und wer Sandra Dadinger sprechen hört, merkt schnell, dass diese Frau so leicht nicht unterzukriegen ist. Die Sätze sprudeln nur so aus ihr heraus. 

Man wird stigmatisiert und als überbezahlt angesehen.

Ihr Konzept: Wenn man selbst zunächst keinen neuen Karriereplan hat, haben andere vielleicht Ideen, was man im Berufsleben noch so machen könnte. «Ich habe dann recht schnell angefangen, mich mit Freunden und Bekannten im Café zu treffen, ich war wahrscheinlich noch nie in meinem Leben so oft Kaffee trinken wie in dieser Zeit», erzählt sie und lacht.

So traf sie sich mit der Startup-Unternehmerin Christina Kehl, die unter anderem den Schweizer Fintech-Verband mit aus der Taufe gehoben hat und die sie aus ihrer Zeit bei der Saxo Bank kannte. Auch Martin Meyer war dabei, der mit dem Programm «Professionals in Residence» Kaderleute für den Neustart fit macht. Ehemalige Kollegen von Julius Bär standen ebenfalls mit Rat zur Seite.

«Ich habe bei diesen Gesprächen nie um einen Job gebeten, sondern nur um ihre Ideen», betont Dadinger. Und aus den Gesprächen entwickelte sich langsam, aber sicher ihr persönlicher Plan B: ihr Marketingwissen auf Mandatsbasis verschiedenen Unternehmen zur Verfügung zu stellen – unter anderem bei Mutterschaftsvertretungen. Nicht mehr angestellt sein, sondern selbstständig und damit frei, auch mal Nein sagen zu können.

Doch Dadinger musste feststellen, dass Angestellte aus der Finanzbranche in anderen Sektoren nicht unbedingt wohl gelitten sind: «Man wird stigmatisiert und als überbezahlt und schwerfällig angesehen», sagt sie. Dennoch schafft sie den Einstieg in den Umstieg und fängt als Mutterschaftsvertretung bei der Hochschule Luzern im Marketing an, die Stelle fand sie über eine Ausschreibung.

Wenn irgendwo eine Tür zugeht, dann geht an anderer Stelle wieder eine auf.

Eine komplett neue Erfahrung. «Ich hatte ja keine Ahnung, wie umkämpft der Bildungsmarkt ist», erzählt die Marketing-Expertin. Ihr Job besteht darin, die Weiterbildungen der Hochschule bekannter zu machen, damit diese gute Studierende findet und behält. Dafür entwickelt sie neue Newsletter und Social-Media-Formate. 

Weitere Mandate kamen hinzu, zum Beispiel bei Startups, Technologie-Unternehmen, aber auch bei Firmen aus ihrem alten Umfeld, der Finanzindustrie. Mittlerweile hat sie so viel Aufträge, dass sie sogar Leute anstellen könnte. Doch das will sie nicht. «Dann habe ich Verantwortung für meine Angestellten, und das ist wieder mehr Stress», begründet sie. 

Dank ihrer Selbstständigkeit kann sie ihre Arbeitslast besser einteilen. «Mehr als vier Projekte parallel, das ist das Maximum.» Gerade die Anfangszeit eines Mandats sei sehr anstrengend, denn dazu gehört unter anderem, dass sie sich in neue Branchen eindenken, die Entscheidungswege und die Kultur der Kundenunternehmen verstehen muss. 

Im ersten Jahr der Selbstständigkeit hat sie fast keine Ferien gemacht aus Angst, nicht genug zu verdienen. Diese Sorge ist mittlerweile gewichen – auch wenn Mandate schon mal wieder gekündigt wurden, weil dem Kunden das Geld ausgeht.

Aber das wirft sie nicht mehr aus der Bahn. «Wenn irgendwo eine Tür zugeht, dann geht an anderer Stelle wieder eine auf. Man muss nur offen und flexibel sein», resümiert sie. Kurz: Den Mut haben, etwas Neues zu wagen. 


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