Ganz am Anfang stand das Bruttosozialprodukt für Kriegstauglichkeit. Die US-Regierung wollte in den frühen 1940er-Jahren abschätzen, wie viele Menschen und Material sie in die Kriegswirtschaft stecken konnte, ohne dass die Bevölkerung hungern und frieren musste. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) war die Frucht einer gemeinsamen Anstrengung.
Nach dem Krieg stand das BIP dann für Konsum und Wohlstand – Autos, Kühlschränke, TV-Geräte, Ferien am Mittelmeer und mehr Freizeit für alle. Rund 30 Jahre lang stiegen die Einkommen auf breiter Front. Auch die Ärmeren konnten sich immer mehr leisten. «Die Flut (ein steigendes BIP) hebt alle Boote», soll John F. Kennedy gesagt haben. Niemand widersprach. «Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt», sang die Band Geier Sturzflug im Sommer von 1981. Das BIP blieb eine Wir-Sache.
Dann kommt die grosse Wende
Spätestens seit den 1990er-Jahren steht das BIP nicht mehr für mehr Wohlstand, sondern für weniger Arbeitslosigkeit. Zu diesem Zweck sind wir sogar bereit, auf privaten und staatlichen Konsum zu verzichten: Damit die Multis hier Arbeit schaffen statt dort, senken wir im Zuge des Standortwettbewerbs die Steuern und die Löhne. Allerdings nicht für alle, denn das BIP wächst ja weiter.
In der Schweiz etwa ist das BIP pro Kopf von 1996 bis 2019 um 32 Prozent gewachsen, die tiefen und mittleren Löhne sind jedoch nur um 17 Prozent oder monatlich 700 Franken gestiegen, während das oberste Zehntel um 40 Prozent oder 12'000 Franken zugelegt hat. Bei den reinen Markteinkommen (Löhne und Kapitaleinkommen vor Steuern) klafft eine noch viel grössere Lücke – die reichsten 30 Prozent kassieren zehnmal so viel wie die ärmsten 30 Prozent. In Österreich ist das mittlere Einkommen seit 1998 real unverändert, während das ärmste Zehntel 28 Prozent einbüsste.
Erhebungsmethode macht weniger Sinn
Damit wird klar, was wir eigentlich immer schon wussten: Das BIP misst nicht, was der Bäcker oder der Bänker zum gemeinsamen Topf betragen, sondern bloss, wie wenig die einen und wie viel die anderen davon abschöpfen. Den gemeinsam Topf gibt es zwar noch immer, aber die Methode, mit der wir ihn vermessen, macht immer weniger Sinn. Die Feststellung, das BIP sei um x Prozent gewachsen, sagt nichts darüber aus, wie das «unseren» Wohlstand beeinflusst. Es gibt kein «unser» mehr. Haben und (glücklich) Sein, klaffen immer weiter auseinander. Yachten machen nur so lange happy, bis der Nachbar eine noch längere hat. Mit Ferraris und Gucci-Taschen verhält es sich gleich. Und die Jobs zu ergattern, die dank dem BIP-Wachstum geschaffen werden, muss man erst von – sagen wir Rumänien - in die Schweiz einwandern.
Kommt dazu, dass wir einen immer grösseren Teil unserer Bemühungen dafür aufwenden müssen, die immer grössere Komplexität des Marktes zu bewältigen und seine Schäden zu heilen. Denken wir nur an die riesige Umverteilungsbürokratie, die nötig ist, um die extrem einseitige Einkommensverteilung zu korrigieren, an die ausufernden Finanzmärkte, die Werbung, die immer längeren Transportwege, die Burnout-Kliniken.
All das generiert zwar Jobs und bläht das BIP auf, trägt aber nichts dazu bei, echte Bedürfnisse zu befriedigen. Vergessen wir das BIP. Unser Glück hängt längst nicht mehr davon ab, wie viel Zeug wir produzieren, sondern davon, wie die Produktion unser Zusammenleben (des-)organisiert.