Wirtschaftsexperte Werner Vontobel ordnet ein
Nicht die Gesundheitskosten sind das Problem, sondern unsere Gesundheit

Wirtschaftsexperte Werner Vontobel findet, dass wir nicht mehr artgerecht leben. Dabei wäre es einfacher, gesünder zu leben als an der Gesundheitskostenschraube zu drehen, schreibt Vontobel.
Publiziert: 31.10.2022 um 13:53 Uhr
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Aktualisiert: 31.10.2022 um 14:04 Uhr
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Fast alle unsere teuren Bobos – Diabetes, Krebs, Alzheimer, Rheuma, Herz-Kreislauf etc. – sind Krankheiten des Lebensstils.
Foto: Getty Images/fStop
Werner Vontobel

Heute in der Migros: Die Treppe rollt, die Kunden stehen. Im Eingangsbereich ein Riesenangebot an herbstlichen Süsswaren, willkommen im Lebkuchenhaus. Vor der Kasse für die Kinder noch die kleine Süssigkeit für zwischendurch. Nach der Kasse – zum Ausgleich – gratis zwei Portionen Multivit. Das fasst das Problem gut zusammen: zu wenig Bewegung, schlechte Ernährung, zu viel Stress, und dann ein Pülverchen statt gesündere Gewohnheiten.

Doch genau darum ginge es: Fast alle unsere teuren Bobos – Diabetes, Krebs, Alzheimer, Rheuma, Herz-Kreislauf etc. – sind Krankheiten des Lebensstils. Wir leben nicht mehr artgerecht. Ob das eher zu dieser oder zu jener Krankheit führt, mag genetisch mitbedingt sein. Doch das hilft nicht weiter. Entscheidend ist vielmehr, dass wir mit einem gesünderen Lebensstil das Risiko all dieser Krankheiten deutlich vermindern können.

Wer sich informiert, bekommt Prämienrabatt

Diese Erkenntnis versucht jetzt die Krankenkasse CSS mit ihrer Gesundheitsapp Active365 umzusetzen. Wer sich pro Woche 210 Minuten bewegt und dabei 70'000 Schritte tut, 60 Minuten meditiert, sich 15 Minuten lang Gesundheitswissen aneignet und sich regelmässig checken lässt, wird mit 600 Franken Prämienrabatt belohnt.

Dass dies einiges bringen könnte, zeigt das vor rund 25 Jahren gestartete, ähnlich gelagerte «Complete Health Improvement Programm», das vor kurzem in Pivio umbenannt wurde. Mit relativ wenigen, auf etwa fünf Wochen verteilten Kursen konnten deutliche, langanhaltende Verbesserungen des Lebensstils erreicht werden. Eine der inzwischen 41 einschlägigen Studien zeigt etwa eine Erhöhung der durchschnittlichen Zahl der Schritte um rund 2000 pro Tag und eine klare Verbesserung der Essgewohnheiten in Richtung tiefe Kaloriendichte: je gut 50 Prozent mehr Gemüse, Früchte und Nahrungsfasern bei 15 Prozent weniger Kalorien insgesamt.

10'000 Schritte am Tag senken das Demenzrisiko

Das wirkt sich aus. Bei einer Gruppe mit Herzproblemen etwa konnte das schlechte LDL-Cholesterin innerhalb eines Jahres im Schnitt um 37 Prozent gesenkt werden, Anfälle von Angina pectoris wurden gar um 90 Prozent reduziert und die Verengung der Halsschlagader – und damit das Risiko eines Schlaganfalls – ging zurück, während sie in der Kontrollgruppe deutlich zunahm. Bei Pivio kommt der Motivationsschub nicht vom eingesparten Geld, sondern von frühen ersten Erfolgen, die in der Gruppe geteilt werden.

Auch die Active365-App könnte mit ersten Erfolgen einen Schub auslösen: Alle anderen Kassen wären gezwungen, sich auch um den Lebensstil ihrer Kostenverursacher zu kümmern. Wer bietet das beste Programm? Die Fakten sind bekannt: 10'000 Schritte am Tag halbieren das Demenzrisiko, schon 1000 Einheiten Vitamin D für über 50-Jährige reduzieren die Zahl der Krebstoten in Deutschland um 30'000 pro Jahr. 4000 bis 8000 Einheiten halbieren nicht nur das Risiko für Krebs, sondern unter anderem auch für Diabetes und MS. Jetzt geht es um die Umsetzung.

Es braucht die Verbindung zu lokalen Gesundheitsaktivisten

Gefragt sind nicht Krebs- und Alzheimerforscher und ihre teuren Medikamente, sondern Verhaltenspsychologen, die wissen, wie man die Menschen dazu bringt, gesünder zu leben. Vermutlich braucht es neben den digitalen Apps noch eine analoge und lokale Ergänzung. Es braucht wohl die Verbindung zu lokalen Gesundheitsaktivisten wie Hausärzten, Fitness-Clubs, Reformhäusern, Turnvereinen, Schulen etc. Auch die Grossverteiler haben mit der Gratisabgabe von Vitamintabletten ihre Möglichkeiten noch nicht voll ausgeschöpft.

Doch die Apps bleiben ein Kernstück. Die Digitalisierung erlaubt eine Erfolgskontrolle. In ein paar Jahren wissen wir noch besser, welche Massnahme wie wirkt. Im Vergleich dazu sind die üblichen Kostensparprogramme Peanuts.

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