Rund 17’000 Tieflohnbezügerinnen und -bezüger arbeiten in der Stadt Zürich – vor allem in der Gebäudebetreuung, im Gartenbau, in der Gastronomie und im Detailhandel. Im Kanton Zürich gab es bisher keinen Mindestlohn. Am Abstimmungssonntag haben gleich zwei Zürcher Städte Ja zur Mindestlohneinführung gesagt: In Zürich beträgt der Stundenlohn 23,90 Franken, in Winterthur 23 Franken – und orientiert sich an der Armutsgrenze.
Für die Gewerkschaften ist die gewonnene Abstimmung ein Erfolg. «Der neue Mindestlohn verbessert die Situation von Arbeitnehmenden mit Tieflöhnen massiv», sagt Serge Gnos (51), Co-Leiter bei der Unia Zürich-Schaffhausen. Doch nun stellt sich die Frage, wie das Konzept umgesetzt wird. Gnos rechnet damit, dass der Mindestlohn ab 2024 eingeführt wird. Jetzt sind die Exekutiven der beiden Städte gefragt.
«Es braucht keine riesige Bürokratie. Es macht Sinn, auf den bisherigen Strukturen aufzubauen», erklärt Gnos. Um den Mindestlohn zu kontrollieren, sind Stichproben geplant. Auch heute schon werden die Löhne kontrolliert. «Die Kontrolle des Mindestlohns könnte man mitlaufen lassen», meint Gnos. Was Regelbrecher erwartet, ist nicht bekannt.
Stellen streichen oder Preise anheben
Aber wer finanziert den Mindestlohn? «Die Firmen könnten die Mindestlöhne in der Form tieferer Profite selber berappen. Das ist aber eher unwahrscheinlich», erklärt Arbeitsmarktexperte Michael Siegenthaler (38) von Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF), der die Forschung zu den Auswirkungen von Mindestlöhnen gut kennt. Unwahrscheinlich ist auch, dass die tiefen Löhne auf Kosten der höheren Löhne im Betrieb steigen.
Zwar besteht auch die Gefahr, dass Firmen niedrig bezahlte Stellen streichen. «Aber diese Angst ist jedoch oft unbegründet», sagt Siegenthaler. «Wahrscheinlicher ist, dass die Konsumentinnen und Konsumenten den Mindestlohn bezahlen.» Denn die betroffenen Branchen werden die Preise wohl anheben – auch wenn nur moderat.
Kritiker warnen, dass Unternehmen den Standort wechseln würden, um den Mindestlohn zu umgehen. Konkret: Ein Pizzakurier zieht nach Dübendorf ZH. Und beliefert seine Kunden in der Stadt Zürich von dort aus. «Das dürfte aber nur ein kleiner Teil sein, der nicht auf den Arbeitsort in der Stadt angewiesen ist», sagt Siegenthaler. Die Gewerkschaft erwartet durch den Mindestlohn keine negativen Effekte auf den Arbeitsmarkt.
Denn: Beim Mindestlohn in der Stadt Zürich geht es darum, wo die Arbeit mehrheitlich verrichtet wird – und nicht, wo der Firmensitz liegt. Das ist ein neuer Ansatz. Ein Beispiel: Arbeitet ein Service-Mitarbeiter aus dem Thurgau hauptsächlich in der Stadt Zürich, hat er Anspruch auf einen Stundenlohn von 23,90 Franken.
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Ein Starbucks-Mitarbeiter in der Stadt Zürich wird mit der neuen Regelung zudem einen höheren Stundenlohn haben als einer in Aarau. «Aber Ungleichheit zwischen den Regionen gibt es sowieso schon», so Siegenthaler. Eine Schwierigkeit dürfte es sein, alle Firmen zu erreichen. «Es wird schwer sein, zu identifizieren, welche ausserstädtischen Unternehmen die Mehrheit der Arbeit in der Stadt Zürich verrichtet», so Siegenthaler.
Weitere könnten folgen
Einzelne Bereiche sind vom Mindestlohn ausgenommen: Praktika bis maximal zwölf Monate, Teilnehmende von Integrations-Programmen sowie unter 25-Jährige ohne Berufsattest. Michael Siegenthaler befürchtet deshalb, dass gewisse Temporärstellen in Zukunft als Praktikum angeboten werden – um den Mindestlohn zu umgehen.
Die bürgerliche Seite hat angekündigt, den Rechtsweg einzuschlagen. Dabei ist das Konzept nicht neu: Mindestlöhne gibt es bereits iin den Kantonen Genf, Neuenburg, Baselland und Basel-Stadt. «Es geht um den Menschen. Das vergisst man schnell», sagt Gnos.
In den Kantonen Waadt und Wallis wurden ebenfalls Mindestlohn-Initiativen lanciert, ebenso laufen Diskussionen im Kanton Freiburg. «Es ist wahrscheinlich, dass weitere folgen», sagt Siegenthaler.