Wenn irgendwo viel zu tun wäre, dann – beispielsweise – in Rumänien. Dort wohnen die Leute im Schnitt auf 18 Quadratmetern pro Person. Bei uns oder in Deutschland sind es rund dreimal soviel. Zudem sind die meisten Häuser in schlechtem Zustand. Auch in Gesundheitswesen herrscht Personalnot. Pro 1000 Einwohner gibt es dort nur halb so viele Ärzte und dreimal weniger gelernte Pflegekräfte als bei uns. Auch bei der Verkehrsinfrastruktur, im Schulwesen etc. sind die Rumänen wesentlich schlechter dran an wir.
Es gäbe viel zu tun in Rumänien. Doch es tut sich nichts. Stattdessen wandern die Leute aus. Seit 1990 ist die Bevölkerung 23,5 auf 19,3 Millionen geschrumpft, während die Bevölkerung der Schweiz und Deutschlands trotz tiefen Geburtenraten im selben Zeitraum allein durch Einwanderung stark angewachsen und in den Ballungsräumen geradezu explodiert ist. Die Rumänen ziehen dorthin, wo die Arbeit bereits gemacht ist.
Der Grund für die Völkerwanderung
Rumänien ist nur ein Beispiel unter vielen. In fast allen anderen osteuropäischen Staaten ist die Bevölkerung noch stärker geschrumpft, und nach einer Prognose der UN soll dieser Trend noch mindestens bis 2050 anhalten. Diese Völkerwanderung hat vor allem einen Grund: Immer mehr Landstriche und Länder sind nicht mehr in der Lage, sich so zu organisieren, dass sie eigenen Bedürfnisse – nach Nahrung, Unterkunft, Pflege, Ausbildung, Unterhaltung etc. – selbst befriedigen können.
Dieses Problem ist systembedingt: Die Marktwirtschaft ist grundsätzlich darauf getrimmt, die Nachfrage von Fremden erst (mit viel Werbung) zu wecken und dann zu decken. Erst mit dem Verkaufserlös kann dann die eigene Nachfrage gedeckt werden. Das System reagiert grundsätzlich nicht auf die realen Bedürfnisse, sondern ausschliesslich auf die monetäre Nachfrage, die es im Übrigen selbst schafft und immer einseitiger verteilt.
«Das war und ist ein Wagnis»
Wir haben uns daran gewöhnt, aber eigentlich ist es eine Sensation: Anders als unsere Vorfahren und als einzige Spezies der Welt hat der moderne Mensch ein Wirtschaftssystem geschaffen, das nicht vom realen Bedarf gesteuert wird, sondern einzig auf vom System selbst geschaffenen Preis-Signale. Das war und ist ein Wagnis. Dass dies bis vor kurzem einigermassen gut gegangen ist, verdanken wir der Tatsache, dass die Staatswirtschaft dieses völlig losgelöste System immer wieder an die realen Bedürfnisse zurückgekoppelt hat. Mit einem progressiven Steuersystem und gut ausgebauten Sozialversicherungen sorgt der Staat dafür, dass mindestens ein Teil der Kaufkraft dorthin gelangt, wo sie gebraucht wird. Vor allem aber kann der Staat Steuern und Abgaben erheben und so mit öffentlichen Dienstleistungen wie Schulen, Infrastruktur, Gesundheitswesen etc. reale Bedürfnisse befriedigen.
Doch heute leben wir im globalen Standortwettbewerb, in dem nicht nur die Waren, sondern auch das Kapital und die Arbeitskräfte frei zirkulieren können. In diesem System sind Länder Standorte, in die das globale Kapital investiert – oder eben nicht. Deshalb gilt alles, was die lokalen und nationalen Bedürfnisse befriedigt – hohe Mindestlöhne, Ausbau des Sozialsystems, öffentliche Dienstleistungen etc. – als Standortnachteil und ist deshalb tunlichst zu vermeiden.
Entwicklungsländer sind froh, Arbeitslosigkeit exportieren zu können
Und weil so erst einmal Arbeit eingespart wird, sind nicht nur die Entwicklungsländer froh, ihre Arbeitslosigkeit exportieren zu können. Der Exportweltmeister Deutschland hat zu diesem Zweck einen Niedriglohnsektor geschaffen, rumänische Altenpflegerinnen sind zu einem staatlich geförderten Exportschlager geworden. Andere Billiglohn-Länder Länder haben den Sextourismus oder die Leihmutterschaft als Exportindustrie und als ihre Nische im globalen Standortwettbewerb entdeckt. Die realen Bedürfnisse vor Ort sind nicht mehr die Treiber des Systems, sondern nur noch ein Anhängsel des Exports.
Auch von den entwickelten Ländern her wird die Arbeitsmigration gezielt gefördert. Deutschlands Regierung etwa wirbt im Rahmen des Projekts «Triple Win» gezielt billige Arbeitskräfte an. Zitat aus der Werbebroschüre: «Die Herkunftsländer profitieren von legalen Migrationsprozessen durch bilaterale Vermittlungsabsprachen. Der lokale Arbeitsmarkt wird entlastet und Geldsendungen der Migranten unterstützen die Familien und stossen entwicklungspolitische Impulse in den Herkunftsländern an.»
Dahinter steckt die seltsame Vorstellung, dass man ein Land dadurch entwickeln könne, dass man den lokalen Arbeitsmarkt entlastet, und dass man die Mütter und Väter von ihren Familien trennt und für ein paar Monate ins Ausland schickt, wo sie statt der eigenen fremde Kinder und Senioren betreuen.
Doch was kann sich in einer Region entwickeln, in der nur noch die Kinder und die Grosseltern zurückgeblieben sind? Wir kennen die Antwort: nichts. Damit wird bloss die Auswanderung weiter gefördert. Wahre Entwicklung fängt damit an, dass die Länder und Kommunen wieder fähig werden, auf die eigenen Bedürfnisse zu reagieren.