Die Ökonomen reden gerne von Trade-offs – ein Mü mehr von diesem gegen etwas weniger vom jenem. Doch über den wichtigsten Trade-off denken sie nie nach: Wenn wir die Wirtschaft organisieren, gestalten wir immer auch die Gesellschaft mit. Hierarchie und Wettbewerb machen die Wirtschaft effizienter, treiben uns zu Höchstleistungen an.
Doch ist das bisschen mehr Konsum, den wir uns damit leisten können, unser Unbehagen mit der Hierarchie wert? Und wie sieht dieser Trade-off aus, wenn wir den Chefs nicht nur gehorchen, sondern auch den Löwenanteil des mit der Hierarchie geschaffenen Mehrwerts abtreten müssen.
Wirtschaft beeinflusst Wohlergehen zu 99 Prozent
Der amerikanische Staatsmann und Intellektuelle Benjamin Franklin hat dazu in einem Brief an einen Freund folgende Beobachtung überliefert: «Wenn ein indianisches Kind unter uns aufgewachsen ist, unsere Sprache gelernt hat und an unsere Sitten gewöhnt wurde, so kann es, wenn es zu seinen Verwandten geht und einen indianischen Streifzug mit ihnen macht, nicht überredet werden, jemals zurückzukehren.
Und dass dies für alle Menschen natürlich ist, wird dadurch deutlich, dass auch Weisse beiderlei Geschlechts, wenn sie jung von Indianern gefangen genommen werden und eine Weile unter ihnen gelebt haben, selbst wenn sie von ihren Freunden freigekauft und mit aller vorstellbaren Freundlichkeit behandelt werden, bei der ersten Gelegenheit wieder in die Wälder fliehen.»
Auf unseren Punkt gebracht, heisst das erstens: Die Wirtschaft beeinflusst unser Wohlergehen zu 99 Prozent durch die Art und Weise, wie sie die Gesellschaft gestaltet. Zweitens: Die Ökonomie ignoriert den allerwichtigsten Trade-off und schrumpft dadurch zu einer 1-Prozent-Wissenschaft. Dasselbe gilt für alle – rechten und linken – Wirtschaftspolitiker, die lieber den Standortwettbewerb gewinnen wollen, statt über die wirklich lebensdienlichen Fragen nachzudenken.
Über Alternativen nachdenken
Das war nicht immer so: In ihrem Buch «Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit», legen der Kulturanthropologe David Graeber und der Archeologe David Wengrow dar, dass unsere «primitiven» Urahnen vor vielen tausende Jahren sehr wohl darüber nachgedacht haben, wie sich die Organisation der Gesellschaft und ihrer produktiven Bemühungen auf ihr Wohlergeben auswirkt. Sie haben bewusst verschiedene Formen mit mehr oder weniger Hierarchie und Wettbewerb, Verteilungsregeln usw. ausprobiert.
Auch die frühe Keltenzeit (600 bis 100 v.Ch.), so konnte man diese Woche im «Tages-Anzeiger» lesen, «war eine sehr lebendige Epoche, in der die Menschen viel ausprobierten». Für Gräber und Wengrow stellt sich deshalb weniger die Frage, woher die Ungleichheit kommt, sondern vielmehr, warum wir seit über 2000 Jahren intellektuell stecken geblieben sind. Warum können wir über Alternativen zu unserer hierarchischen Gesellschaftsform noch nicht einmal mehr nachdenken?
Keine andere Spezies ist so dumm
Die Frage stellt sich umso dringender, als deren Nachteile immer offensichtlicher werden: Die Menschen verschwenden einen immer grösseren Teil ihrer Ressourcen, um für ihre Hierarchen und Sportstars Yachten und Luxusresidenzen zu bauen. Dies, obwohl wir immer besser wissen, dass wir uns den damit verbundenen ökologischen Raubbau nicht leisten können. Keine andere Spezies ist so dumm.
Längst haben wir uns auch schon vom Gedanken verabschiedet, dass wir deshalb mehr produzieren müssen, damit wir noch mehr konsumieren können. Heute brauchen wir ein steigendes BIP, um noch mehr Arbeitslosigkeit zu vermeiden, und die Gesellschaft nicht noch mehr zu desorganisieren.
Damit sind wir zurück bei dem, was Franklin von den Indianern gelernt hat: Unser Wohlbefinden hängt mehr denn je davon ab, wie die Wirtschaft die Gesellschaft formt. Wir wissen es – eigentlich. Hoffentlich sind wir bald so weit, dass wir über intelligentere Modelle nicht nur nachdenken, sondern auch damit experimentieren können.
Wie einst die «Primitiven».