«Die Schweiz muss klare Grenzen aufzeigen»
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Risikoexperte Ian Bremmer:«Die Schweiz muss klare Grenzen aufzeigen»

Risikoexperte und Politologe Ian Bremmer
«Die Welt entwickelt sich rückwärts»

Im Gespräch mit Blick spricht der Politologe und Risikoexperte Ian Bremmer über seine Erfahrungen am WEF, was er dieses Jahr erwartet und was die Rolle der Schweiz sein könnte.
Publiziert: 16.01.2023 um 00:54 Uhr
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Aktualisiert: 16.01.2023 um 07:04 Uhr
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Der US-Politologe Ian Bremmer ist ein regelmässiger Gast ...
Foto: Lea Hartmann
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Christian KolbeRedaktor Wirtschaft

Ian Bremmer (53) ist ein viel gefragter Mann. Seit einem Vierteljahrhundert beschäftigt sich der Politologe mit den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und klimatischen Risiken rund um die Welt. Der «Top-Risk-Report», den Bremmer mit seiner Eurasia Group jedes Jahr im Januar veröffentlicht, erreicht ein globales Millionenpublikum. Blick spricht mit ihm via Videocall in New York. Nach 20 Minuten muss das Gespräch unterbrochen werden, ein dringender Termin kann nicht warten. Stunden später gelingt es doch noch, das Interview zu Ende zu führen. Bremmer ist seit Jahren Stammgast am World Economic Forum (WEF) in Davos GR.

Blick: Wie oft waren Sie schon am WEF?
Ian Bremmer:
So genau habe ich das nicht gezählt. Wohl ein gutes Dutzend Mal.

Wie hat sich das Forum seit Ihrer ersten Teilnahme verändert?
Es ist globaler geworden, die Teilnehmerschaft vielfältiger. Schwellenländer haben an Bedeutung gewonnen. Als ich zum ersten Mal in Davos war, ging es nur um die globale Wirtschaft und das Finanzwesen. Ich war mit meinen geopolitischen Themen ein Aussenseiter.

Das ist jetzt nicht mehr so?
Davos ist heute politischer. Auch der Klimawandel steht im Zentrum der Veranstaltung. Das war früher anders, als es vor allem um wirtschaftliche Themen ging, der Kapitalismus rauf und runter dekliniert wurde. Mich erstaunt, dass viele Teilnehmer teilweise seit Jahrzehnten eng mit dem WEF verbunden sind.

Was erwarten Sie von der Ausgabe 2023?
Das diesjährige WEF 2023 wird wohl stark überbucht sein. Jeder möchte dabei sein und sich wieder mit allen vernetzten. Das wird eine ungeheuer intensive und produktive Woche werden. Es ist schon erstaunlich, wie viele Geschäftstreffen sich in so kurzer Zeit in Davos absolvieren lassen.

Kenner der globalen Risiken

1998 gründete der Politologe Ian Bremmer in New York (USA) den Thinktank Eurasia Group. Seine Geschäftsidee: Firmen und Investoren über die politischen Risiken in ausländischen Märkten aufzuklären, vor allem in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Heute ist er der Präsident einer Firma mit Niederlassungen in vier Kontinenten. Daneben lehrt und forscht Bremmer an der New York University und schreibt als regelmässiger Kolumnist für das Nachrichtenmagazin «Time», die Nachrichtenagentur Reuters oder das Magazin «Foreign Policy». Seine Bücher landen regelmässig auf den Sachbuch-Bestsellerlisten.

1998 gründete der Politologe Ian Bremmer in New York (USA) den Thinktank Eurasia Group. Seine Geschäftsidee: Firmen und Investoren über die politischen Risiken in ausländischen Märkten aufzuklären, vor allem in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Heute ist er der Präsident einer Firma mit Niederlassungen in vier Kontinenten. Daneben lehrt und forscht Bremmer an der New York University und schreibt als regelmässiger Kolumnist für das Nachrichtenmagazin «Time», die Nachrichtenagentur Reuters oder das Magazin «Foreign Policy». Seine Bücher landen regelmässig auf den Sachbuch-Bestsellerlisten.

Also, sozusagen business as usual?
Nicht ganz. Die Techfirmen werden das Treffen deutlich weniger stark dominieren als noch vor der Pandemie. Die Kryptobranche durchläuft gerade eine grosse Krise. Aber auch Facebook, Twitter und andere stehen vor grossen Herausforderungen. Diese Firmen werden nicht mehr so viel Geld für Partys und ihren Auftritt in Davos ausgeben, nicht mehr die ganze Promenade mit ihren Plakaten zupflastern.

Ein bescheideneres Davos?
Nein, die Teilnehmer haben die grossen Koffer gepackt und wollen unbedingt in Davos dabei sein. In den vergangenen drei Jahren war Reisen nicht angesagt, jetzt bietet sich endlich wieder die Möglichkeit, all die Geschäftskollegen aus der ganzen Welt zu treffen, die man in den letzten Jahren nicht sehen konnte.

Davos gilt als das Treffen der Reichen und Mächtigen – was haben gewöhnliche Leute davon?
Bezüglich Medienaufmerksamkeit spielt das WEF in einer Liga mit einem G20-Gipfel, der Uno-Vollversammlung oder den Klimagipfeln. Die Frage müsste lauten: Wie zufrieden sind die Leute mit den Eliten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft? Die Antwort: Sie sind nicht glücklich mit den Chefs und den Regierenden. Die Menschen haben viel Vertrauen in die Entscheidungsträger verloren. Es gibt einen grossen Unterschied zwischen den Themen und Diskussionen an diesen Gipfeln – und dem, was die Bevölkerung wirklich beschäftigt.

Mit welchen Folgen?
Die globale Ungleichheit wird zwar regelmässig diskutiert, aber dieses Problem lässt sich nicht von heute auf morgen lösen. Die Welt hat sich in den letzten drei Jahren rückwärts entwickelt. Die Armut steigt, der Graben zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden vergrössert sich. Frauen werden in die Schattenwirtschaft abgedrängt, Zwangsprostitution und -heirat breiten sich aus. Die Zahl der Flüchtlinge steigt weltweit.

Wie lange wird dieser Rückschritt anhalten?
In diesem Jahr droht eine globale Rezession, die Probleme mit den Lieferketten werden anhalten. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der Beinahe-Krieg zwischen Russland und der Nato – all das ist sehr gefährlich. Das bekommen die Ärmsten als Erste zu spüren.

Keine Trendumkehr in Sicht?
Die nächsten drei bis fünf Jahre werden für die Welt eine grosse Herausforderung. Die Globalisierung geht zurück. Dagegen nehmen Protektionismus und Populismus zu, die Effizienz der globalen Märkte sinkt, Güter kosten mehr. Dazu kommt die Gefahr durch den Klimawandel, es wird mehr Dürren und Überflutungen geben. Die Menschheit spürt den Gegenwind dieses Wandels immer stärker, viel stärker als in den vergangenen 50 Jahren.

Das WEF hat sich auf die Fahnen geschrieben, den «Zustand der Welt verbessern» zu wollen. Kann das gelingen?
Die Entscheidungsträger in Davos können dazu beitragen, die Effizienz zu steigern, das Wachstum zu beschleunigen, darauf hinwirken, dass Lösungen schneller umgesetzt werden. Davon würden alle profitieren. Auch wenn immer mehr Menschen mit der Globalisierung unglücklich sind, so bleibt sie doch der beste Weg, um Effizienz und Wohlstand zu steigern. So gesehen war ein WEF noch nie so wichtig wie jetzt. Davos ist der wichtigste Treffpunkt für all die Interessenvertreter aus Politik, Wirtschaft, von Stiftungen und NGOs – solche Treffen sollten häufiger stattfinden.

Aber konkrete Resultate gibt es selten in Davos.
Über die Vernetzungsfunktion hinaus kann das WEF wichtige Themen auf die Agenda setzen. Das Forum kann dabei helfen, die richtigen Prioritäten zu setzen, so wie es die Uno etwa beim Klimawandel tut. Aber natürlich gibt es viele Teilnehmer in Davos, die ihre eigene Agenda verfolgen. Das zeigt die Grenzen des Forums. All die unterschiedlichen Interessen zu bündeln, ist für eine kleine Organisation wie das WEF um einiges schwieriger als für den Generalsekretär der Vereinten Nationen.

Wo sehen Sie die grösste Gefahr in diesem Jahr?
Das grösste Risiko geht von Individuen ohne ausreichende Kontrolle ihrer Macht aus, die nur von Jasagern umgeben sind. Sie können für die Welt katastrophale Fehler begehen – und niemand hindert sie daran. Ich denke da vor allem an Wladimir Putin (70) oder Xi Jinping (69) in China, aber auch an einige Chefs von Techgiganten. All diese Leute haben grosse Macht, denken aber nicht über die Folgen ihres Handelns nach.

Wie zum Beispiel Elon Musk (51)?
Musk oder auch Mark Zuckerberg (38). Das sind keine schlechten Menschen, aber sie haben eine enorme disruptive Macht, können die Welt auf den Kopf stellen.

Welche Rolle kann ein kleines Land wie die Schweiz in dieser herausfordernden Welt spielen?
Wichtig ist, dass die neutrale Schweiz, die Sanktionen gegen Russland mitträgt, die Vermögen von Oligarchen blockiert hat. So neutral die Schweiz sein möchte, sie steht klar auf der Seite von Demokratie und Rechtsstaat. Das ist das wichtigste Zeichen: Es darf keine sicheren Häfen geben, wo sich Schurken verstecken können oder wo sie ungehinderten Zugriff auf ihre Vermögenswerte haben.

Wie steht es um die Rolle als Friedensvermittlerin?
Dazu braucht es die Schweiz nicht. Dafür sind der Uno-Generalsekretär oder der türkische Präsident besser geeignet. Sie haben ein geopolitisches Gewicht und werden eher von beiden Seiten als Verhandlungspartner akzeptiert. Dieser Einfluss fehlt der Schweiz.

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