In den letzten Jahren habe ich wohl schon Tausende solcher Youtube-Filme weggedrückt – Tendenz stark steigend. Das Grundmuster ist immer dasselbe: Viel Meeressicht, Yachten, teure Autos, gediegenes Interieur, grosse Versprechungen: «Noch keinen Monat weniger als 10‘000 Euro verdient.» Dazu begeisterte Testimonials von Followern. «Schon nach wenigen Monaten konnte ich meinen Job kündigen.» Das einzige sichtbare Arbeitsinstrument ist ein Laptop, mit dem man sich mit den globalen Finanzmärkten verbindet. Von dort kommt das Mantra: «Mit täglich einer Stunde Traden verdiene ich heute mehr als vorher mit acht Stunden Arbeit.»
Das ist zwar stark übertrieben, hat aber drei reale Hintergründe. Erstens: Sich mit produktiver Arbeit von finanziellen Sorgen zu befreien, wird immer schwieriger. Zweitens: Arbeit ist für viele mit zu viel Unfreiheit verbunden – unmögliche Arbeitszeiten, despotische Chefs, Angst vor Kündigung. Und vor allem: Das Mantra der Kapitalmärkte ist real.
Kein schlechtes Gewissen
Laut McKinsey belief sich das globale Bruttofinanzvermögen schon 2020 auf 1540 Billionen Dollar – das 18-Fache des weltweiten BIP. Wenn sich dieser Wert pro Arbeitstag auch nur um 1 Promille verändert, werden fast 50-mal mehr (alte) Vermögen verschoben als neues BIP erarbeitet. Wer will da noch arbeiten, wenn doch mit Spekulation so viel mehr zu gewinnen ist?
Inzwischen kennt fast jeder direkt oder indirekt jemanden, der oder die durch die Launen des Finanzmarktes finanziell frei geworden ist. Sei es, weil die Person eine überteuerte Immobilie geerbt, rechtzeitig Bitcoins gekauft oder auf die richtige Aktie gesetzt hat. So gesehen haben die Versprechungen der Youtube-Finanzberater – so unseriös sie im Einzelfall auch sein mögen – durchaus einen realen Hintergrund.
Kommt dazu: Im Gegensatz zum Sozialbetrug ist Finanz-Schnorren weder strafbar noch mit einem schlechten Gewissen verbunden. Im Gegenteil: Erfolgreiches Spekulieren gilt als Leistungsausweis, auf den man stolz sein kann. Doch wer hat die Ferraris, Yachten und Schwimmbäder der Finanzinvestoren gebaut, wer backt ihr Brot, wer schult ihre Kinder? Die Spekulationsgewinner leben genauso von der Arbeit der anderen wie die Sozialhilfebetrüger. Doch deren Geld stammt aus der Staatskasse, die «wir alle» alimentieren. Wenn ein Sozialhilfeempfänger einen Ferrari fährt oder sich einen Swimming-Pool bauen lässt, fällt das auf. Die soziale Kontrolle funktioniert – wenn auch nicht immer perfekt.
Es umgibt sie eine Aura von Tüchtigkeit
Bei den Finanzspekulanten fehlt diese Kontrolle. Ihr Geld – beziehungsweise die von ihnen beanspruchten Leistungen – stammt aus anonymen Quellen. Der «Marktmechanismus» hat es ihnen zugeteilt. Erfolgreiche Spekulanten umgibt eine Aura von Tüchtigkeit. Ihre Gewinne gelten als Leistungsausweis. Doch auch sie bedienen sich aus einer Welt mit begrenzten Ressourcen. Was die einen mehr haben oder nicht leisten, fehlt den anderen. Dass die Finanzmarkt-Gewinner für ihren Konsum mit dem «eigenen» Geld bezahlen, ändert nichts daran, dass sie die Leistungen ohne physische Gegenleistung beziehen und somit – wie die Sozialhilfebetrüger – von der Arbeit der anderen leben.
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Die mit diesen falschen Kapitalmarktanreizen verbundene Fehlallokation von Arbeitskraft und Ressourcen geht weit über den Sozialhilfebetrug hinaus. Bloss fällt es nicht auf: Die normalen und vor allem die grossen Spekulanten sitzen nicht selbst am Laptop. Dazu haben sie – haben wir – die Vermögensverwalter, Assetmanager oder Immobilienvermittler. Deren Arbeit wird im BIP genauso als produktiv verbucht, wie die von Bauarbeitern oder Krankenpflegern. Diese letztlich unproduktive, bloss umverteilende Arbeit verschlingt inzwischen wohl weit über ein Zehntel des BIP. Tendenz steigend: Die weltweiten Vermögen wollen verwaltet werden und sie wachsen viel schneller als das BIP.
Nur die Spitze des Eisberges
Unsere Youtube-Trader sind nur die kleine Spitze des Eisbergs – doch sie könnten eine nützliche soziale Funktion erfüllen: Ihre filmischen Werke zeigen Sozialschmarotzer, die ostentativ jede produktive Arbeit ablehnen und dennoch in Saus und Braus leben. Besser kann man die falschen Kapitalmarktanreize nicht auf den Punkt bringen.
Doch leider sind wir auf diesem Auge schon ziemlich blind.