Die uralte Diskussion um den gesetzlichen Mindestlohn ist um eine Facette reicher geworden. Neuerdings geht es auch darum, wer dafür zuständig sein soll: Die Sozialpartner (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) im Rahmen von branchenweiten Gesamtarbeitsverträgen, sogenannen GAVs? Oder sollen die Stimmbürger kantonale oder gar kommunale Mindestlöhne beschliessen dürfen?
Die bürgerliche Mehrheit im eidgenössischen Parlament will, dass die GAVs Vorrang vor lokalen Mindestlöhnen haben sollen. Nun muss der Bundesrat ein entsprechendes Gesetz ausarbeiten, gegen das höchstwahrscheinlich das Referendum ergriffen wird. Doch das Kompetenzgerangel ist ein Scheingefecht. Letztlich geht es – wie immer – um Franken und Rappen. In Zürich zum Beispiel hat das Stadtparlament einen Mindestlohn von 23.90 Franken beschlossen. Viel zu viel, wie die bürgerlichen Parteien meinen.
Ihre Argumente – wie auch die der Gegenseite – sind immer dieselben: Zum einen würde ein Mindestlohn zu höheren Kosten insbesondere in der Gebäudereinigung, Gastgewerbe und im Detailhandel führen, was wiederum höhere Preise und einen entsprechenden Anstieg der Inflation bedeuten würde. Ferner wird eingewendet, dass höhere Mindestlöhne wenig zur Armutsbekämpfung beitragen, weil die meisten Armen ohnehin keinen Job haben. Und schliesslich das wichtigste Argument: Wenn etwas mehr kostet, wird es weniger nachgefragt. Wenn die Löhne steigen, werden die entsprechenden Jobs abgebaut – zum Nachteil der ohnehin Benachteiligten.
Durchschnittlicher Stundenlohn in Zürich bei 70 Franken
Mag sein. Mit ökonomischen Theorien lässt sich alles rechtfertigen. Aber es gibt auch die moralische Dimension: In der Stadt Zürich liegt der durchschnittliche Lohn bei 70 und der Medianlohn (je die Hälfte der Arbeitnehmer haben mehr oder weniger) bei 50 Franken pro Stunde. Das durchschnittliche Arbeitspensum beläuft sich auf rund 1500 Jahresstunden. Mit diesen monatlich gut 6000 Franken pro Erwachsenem können die Normalbürger eine Familie über die Runde bringen, sich Ferien leisten und fürs Alter vorsorgen. Mit bloss 23.90 Franken pro Stunde bzw. knapp 3000 Franken pro Monat kann man das nicht. Wie kann ich es als Normalbürgerin mit meinen Gewissen vereinbaren, dass ich meine Mitbürger für so wenig Geld arbeiten lasse?
Das ist genau die Frage, die sich die Aldi-Kundin von der Plakatkampagne gestellt und klar beantwortet hat: «Läden, die beim Lohn sparen, gehen gar nicht!» Das ist raffiniert: Nicht mehr der Arbeitgeber (Aldi) ist zuständig für den gerechten Lohn, sondern der Kunde. Er übernimmt die Verantwortung selbst und geht nicht mehr in die Läden, zu den Coiffeuren, Reiseveranstaltern, Fitnesszentren etc., die beim Lohn sparen. Aldi-Kundinnen und -Kunden wollen den Leuten, die für sie arbeiten, in die Augen schauen können. Die Frage des Mindestlohns wird zu einer Frage des Stils und des Anstandes.
Spielt es da noch eine Rolle, ob hohe Mindestlöhne zu mehr Arbeitslosigkeit führen? Nein, denn ob das so ist, hängt weitgehend davon ab, ob die Kundinnen und Kunden den Anstand wahren. In der Schweiz ist dies noch überwiegend der Fall. Die Aldi-Werber wissen das. Sie haben den richtigen Ton getroffen und tragen damit dazu bei, dass dies – die Sache mit dem Anstand – weiter so bleibt.