In den 1960er-Jahren war es noch üblich, dass eine einzelne Arbeitskraft mit einer 44-Stundenwoche eine fünf- oder gar sechsköpfige Familie durchbringen konnte. Gewiss, man lebte bescheiden, aber niemand musste hungern, und alle waren anständig gekleidet. Seither hat sich die Arbeitsproduktivität pro Stunde fast verdreifacht. Zudem ist es heute üblich, dass beide Elternteile einer bezahlten Arbeit nachgehen (müssen) und zusammen im Schnitt rund 65 Stunden arbeiten.
Noch ein Rückblick: Bis vor kurzem war die Arbeitslosigkeit weltweit das wirtschaftspolitische Hauptthema und allen schien klar, dass der technologische Fortschritt – die «Industrie 4.0» – dieses Problem noch weiter verschärfen würde. Diese vielzitierte Studie ging davon aus, dass die Hälfte aller Jobs verschwinden würde. Und jetzt sollten wir plötzlich unseren Lebensstandard nur halten können, wenn wir alle mehr arbeiten.
Warum sollte das so sein?
Investitionen in den Wohnungsbau
Ein naheliegender Verdächtiger sind die teuren Mieten, welche uns zu entsprechend hohen Einkommen und Arbeitseinsätzen zwingen. Doch mit dem Arbeitskräftemangel hat dies nichts zu tun. Die Investitionen in den Wohnungsbau – der wichtigste Kostenfaktor des Wohnens – beanspruchen keine fünf Prozent des BIP, und dieser Anteil hat sich seit 30 Jahren fast halbiert. Bauen ist billiger geworden. Dafür müssen wir – zumindest aus volkswirtschaftlicher Sicht – sicher nicht mehr arbeiten.
Auch die Vermutung, der Arbeitskräftemangel hänge mit der Überalterung (mehr Rentner auf weniger Aktive) zusammen, widerspricht den Fakten. Mit 67,1 Prozent liegt die aktuelle Erwerbsquote – dank der Zuwanderung junger Arbeitskräfte – nur unwesentlich unter den 67,4 Prozent von 2000. Im Gegenzug ist aber der Anteil der unter 20-jährigen (die von den Aktiven unterhalten werden) von 23,4 auf 19,8 Prozent deutlich gesunken. Die demografische Last ist – vorerst – leichter, nicht schwerer geworden.
Haben wir ein Teilzeitproblem?
Oder kommt das Problem davon, dass zu viele faule Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nur noch Teilzeit arbeiten wollen? Auch hier: Entwarnung. Die Zahl der Arbeitsstunden pro Erwerbstätige ist zwar seit zehn Jahren um 3 Prozent gesunken, aber in derselben Zeit ist die Produktivität um 11 Prozent gestiegen. Pro Kopf produzieren wir somit nicht weniger, sondern 8 Prozent mehr als 2012. Zudem arbeiten wir pro Woche rund zwei Stunden mehr als beispielsweise die Deutschen. Es müsste also reichen.
Unser Exportüberschuss von fast 10 Prozent des BIP zeigt zudem, dass wir weit über den eigenen Bedarf hinaus produzieren. Doch genau das ist vielleicht des Rätsels Lösung. Die Schweizer Wirtschaft ist auf Export getrimmt, nicht auf den Eigenbedarf. Doch 70 Prozent der gut eine Million Jobs, die seit 1991 zusätzlich geschaffen worden sind, entfallen auf den Eigenbedarf, nämlich auf die Bereiche Gesundheit, Soziales und Erziehung und Verwaltung. Das sind öffentliche Dienstleistungen, die mit Steuern finanziert werden müssten – was uns schwerfällt. Statt dafür die nötigen Leute auszubilden und anständig zu bezahlen, haben wir (billige) Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen lassen, was wiederum entsprechende Investitionen in die Infrastruktur nach sich gezogen hat. Wofür wir wiederum gerne billige Arbeitskräfte anfordern. So wird der «Arbeitskräftemangel» zu einem Perpetuum mobile oder zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung.