Vontobel ordnet ein
Leere Honigtöpfe und politische Denkfehler

Im letzten Jahr hat die Schweiz 237 Milliarden Franken Miese gemacht. Ein guter Grund, die AHV aufzustocken, so der Wirtschaftsexperte Werner Vontobel.
Publiziert: 22.01.2023 um 18:57 Uhr
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Wirtschaftsexperte Werner Vontobel ordnet relevante Themen der Ökonomie ein.
Foto: Paul Seewer
Werner Vontobel

Jahr für Jahr erzielt die sparsame Schweiz beträchtliche Leistungsbilanzüberschüsse. In den letzte vier Quartalen konnten wir so 62 Milliarden Franken auf die hohe Kante legen. Gleichwohl ist aber unser Nettoguthaben gegenüber dem Ausland um nicht weniger als 175 Milliarden geschrumpft. Macht ein Minus von insgesamt 237 Milliarden Franken. Mehr als drei Monate gratis geschuftet.

Der Grund dafür liegt darin, dass wir unsere Überschüsse notgedrungen in Devisen anlegen und sich diese immer wieder mal entwerten. Dieses Schicksal teilen wir mit allen anderen chronischen Überschussländern wie etwa Deutschland.

Wie fast immer ist der grösste Teil des Verlusts – 132 Milliarden – bei der Nationalbank angefallen. Damit, so Rudolf Minsch, Chefökonom der Economiesuisse, würden «politische Denkfehler offensichtlich». Alle müssten nun einsehen, dass wir die Sanierung der AHV, den Ausbau der Energieversorgung usw. nicht aus den «Honigtöpfen der Nationalbank» finanzieren können.

Minsch und alle die anderen, die auch so argumentieren, machen selbst einen Denkfehler, indem sie den Topf aus dem Gesamtzusammenhang reissen. Ökonomisch gesehen sind nämlich nicht die Töpfe entscheidend, sondern die Fliessgrössen.

Überschüsse von 50 Milliarden

Konkret: Die Schweiz nimmt laufend mehr ein als die ausgibt und erzielt so jährliche Überschüsse von rund 50 Milliarden Franken. Diese fliessen in diverse Töpfe und entwerten sich dort. Siehe oben. Das ist aber nur der kleinere Teil des Problems.

Der Grössere liegt darin, dass wir immer mehr Energien mit der Verwaltung der entsprechenden Guthaben verschwenden statt für wirklich produktive Arbeit. Man denke nur mal an die 1200 Milliarden der 2. Säule und die entsprechenden Verwaltungskosten.

Wenn wir nun das Verrotten der Honigtöpfe zum Anlass nehmen, noch mehr zu sparen, um die Töpfe wieder zu füllen, dann drehen wir bloss eine Leerlaufmaschine und alimentieren die Kapitalmärkte.

Vielmehr sollten wir überlegen, wie wir die 50 Milliarden produktiv investieren. Etwa mit dem Ausbau alternativer Energien. Oder mit höheren AHV-Renten. Gemäss der neuesten Rentenstatistik hat ein Viertel aller Neurentner eine AHV-Rente von 1669 Franken oder weniger. Das reicht oft noch nicht einmal für die Miete und die Krankenkasse.

Ungleiche Vermögensverteilung

Um die entsprechenden Mehrausgaben zu finanzieren, braucht man keine Honigtöpfe. Man kann auch die Steuer erhöhen, etwa mit dem Nebenzweck, die extrem ungleiche Vermögensverteilung ein wenig zu glätten: Pro Jahr werden etwa 100 Milliarden Franken vererbt, fast alle an das reichste Zehntel. Diese Erbschaften werden im Schnitt mit 1,6 Prozent besteuert.

Würden sie stattdessen nur schon halb so hoch besteuert wie hart verdiente Arbeitseinkommen, könnte man alle AHV-Renten um gut 10 Prozent aufstocken. Ein ähnliches Ergebnis könnte man erzielen, wenn man nur noch die obligatorischen BVG-Beiträge steuerlich abziehen könnte.

Aber das ist natürlich nicht im Sinne von Economiesuisse. Deshalb beklagt ihr Chefökonom lieber lauthals den leeren Honigtopf und lenkt damit von den brachliegenden Fliessgrössen ab. Das ist zwar ein ökonomischer Denkfehler, aber parteipolitisch raffiniert.

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