Die Staus werden immer länger, die Luft immer dicker. Deswegen den ÖV auszubauen, macht die Sache nur noch schlimmer. Das bessere Rezept heisst: Verdichten, abschöpfen, flanieren.
Die Gemeindeverwaltung, die Schulen, die Migros, der Bäcker, die Hausärztin, das Café, der Coiffeur, der Spengler, das Altersheim usw. – die allermeisten Jobs dienen dem lokalen oder regionalen Bedarf. Warum also werden die Arbeitswege dennoch immer länger? Warum legt der durchschnittliche Schweizer pro Jahr rund 15'000 Kilometer mit dem Auto und dem ÖV zurück? Warum verbringen wir heute doppelt so viele Stunden im Stau wie noch 2010? Warum gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass der Verkehr immer weiter zunimmt?
Die 10-Minuten-Nachbarschaft
Sibylle Wälty (45), Raumentwicklungsforscherin bei der ETH, weiss es: Weil wir ständig in die Mobilität investieren. Und weil es für die Städte finanziell und steuerlich attraktiver ist, Arbeitsplätze anzulocken und den Bau von Wohnungen, Schulen und Kindergärten den Vorortsgemeinden zu überlassen.
Kein Wunder, werden die Wege für Arbeit, Konsum und Freizeit immer länger. Damit uns die Staus nicht noch mehr Zeit rauben und damit das Auto nicht noch mehr Verkehrsfläche beansprucht, und um wenigstens die ökologischen Probleme zu entschärfen, wird der ÖV ausgebaut und der Benzinmotor soll durch den Elektroantrieb ersetzt werden.
Doch warum bringen wir stattdessen nicht einfach Arbeit, Wohnen und Einkaufen wieder näher zusammen? Sibylle Wälty hat dafür auch schon eine Formel entwickelt – die 10-Minuten-Nachbarschaft. Mindestens 10'000 Einwohner und 5000 Arbeitsplätze in einem Radius von 500 Metern mit guter ÖV-Anbindung. Das ist keine blosse Theorie, sondern ein Erfahrungswert.
Wenn die Leute alles, was sie zum täglichen Leben brauchen, in 10 Minuten zu Fuss erreichen können, dann tun sie es auch. Und dann lohnt es sich dort, eine Apotheke, eine Kneipe, einen Coiffeursalon, ja sogar einen Buchladen zu eröffnen. Und dann rechnet sich auch ein gutes Angebot an öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Bibliotheken oder Parks.
Bis zu 50 Prozent weniger Verkehr
Befragungen zeigen, dass Bewohner solcher 10-Minuten-Nachbarschaften nur 15 Prozent der Wege mit dem Auto zurücklegen, in verhäuselten Vorortsgemeinden und ländlichen Gebieten hingegen um die 50 Prozent. Das betrifft auch die Arbeitswege, denn, je dichter die Überbauung, desto grösser ist auch die Chance und der Anreiz, einen Job in Fuss- oder Velodistanz zu finden.
Gemäss einer Studie der Glücksforschung bringt jede Minute weniger Arbeitsweg pro Tag fast so viel Glückszuwachs wie ein Prozent mehr Lohn. Zudem kann man viel Geld für Transportkosten sparen.
Vorausgesetzt, die Raumplanung setzt ab 2023 konsequent auf Verdichtung der Zentren, dann lebt, gemäss den Schätzungen von Wälty, bis 2050 ein Drittel der Schweizer Bevölkerung in einer 10-Minuten-Nachbarschaft. Dadurch wiederum kann das durch das Auto verursachte Verkehrsvolumen halbiert werden. Das heisst auch: weniger Verkehrslärm, mehr Spielfläche für Kinder, mehr Begegnung, mehr Nachbarschaft, mehr Lebensqualität.
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Nutzen gerecht verteilen
Schöne Aussichten, doch sie werden nur dann Realität, wenn sich auch der Bäcker, die Buchhändlerin und all die anderen Dienstleister eine Wohnung in ihrer Nachbarschaft leisten können. Anders formuliert: Der Mehrwert, der durch die Investitionen in die Nachbarschaft (ÖV, Schulen, Polizei, Spielplätze, höhere Ausnützungsziffer) von der Allgemeinheit geschaffen wird, muss gerecht verteilt werden.
Zu diesem Zweck kann der Staat den gestiegenen Marktwert entweder bei den Landbesitzern abschöpfen, oder er kann die Vermieter verpflichten, ihre Mieten der Kaufkraft der Einwohner anzupassen: «Ihr seid Teil einer Nachbarschaft, also benehmt Euch gefälligst wie Nachbarn.»