Von Swissair bis zur UBS
Esther-Mirjam de Boer macht weiter, wenn andere aufgeben

22 Jahre, 10 Krisen, eine Unternehmerin: Eine Geschichte über eine Rollercoaster-Karriere, die es kaum ein zweites Mal gibt.
Publiziert: 02.01.2025 um 17:01 Uhr
Die Karriere von Esther-Mirjam de Boer ist von Krisen gezeichnet.
Foto: Remo Neuhaus

Auf einen Blick

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Tina Fischer
Handelszeitung

Sie arbeitete bei der Swissair, als das Drama in Halifax passierte. War auf die UBS angewiesen, als diese bei der Finanzkrise 2008 ins Schleudern geriet. Und wurde als Personalberaterin von der Pandemie ausgebremst. Die Karriere der Unternehmerin Esther-Mirjam de Boer (56) ist steinig. Sie verläuft alles andere als geradlinig, Krisen und Erfolge wechselten sich ab. Der «Handelszeitung» erzählt sie ihren Weg:

1. Direkt in die Selbstständigkeit

Kaum das Diplom als ETH-Architektin in der Tasche, zog es de Boer in die Selbständigkeit. Erste Aufträge schienen vielversprechend – zwei Projekte beschäftigten sie neun Monate lang. Doch dann blieben die Aufträge aus. Das Geld wurde knapp, die Miete war nicht mehr bezahlbar. Also musste die damals 25-Jährige ihren Traum von der Selbständigkeit – vorläufig – aufgeben. Die Lust auf das Unternehmertum war da, doch «ich habe gemerkt, dass ich zwar das handwerkliche Rüstzeug einer Architektin besass, aber keine Ahnung hatte, wie ich Umsatz generiere».

Artikel aus der «Handelszeitung»

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2. Am finanziellen Ruin vorbei

Die Konsequenz: Sie machte eine Kaderschulung, um das Geschäftemachen zu lernen. De Boer trat eine Festanstellung in einem Architekturbüro an. Bereits ein Jahr danach fragte der Firmengründer, ob sie – damals 26 Jahre alt – als Partnerin einsteigen wolle. «Ich fühlte mich geschmeichelt, meine Arbeit wurde wertgeschätzt», erinnert sich de Boer. Doch mitten in der Freude nahm ihre Administrationsleiterin sie zur Seite und sagte: «Esther, schau dir erst die Geschäftszahlen an.» Sie verschaffte sich den Zugang und fand ein finanzielles Desaster vor. Und prompt: Drei Monate später blieb der Lohn aus. Dank dem Hinweis war sie gerade so am finanziellen Ruin vorbeigeschlittert. Anderthalb Jahre nach dem Start im Architekturbüro stand sie ohne Anstellung da.

3. Start auf dem Rollfeld Swissair

Eine Stellenausschreibung in der Immobilienabteilung der Swissair weckte ihr Interesse. Die HR-Verantwortliche sah zunächst ihre Überqualifikation, glaubte aber an ihr Potenzial und empfahl ihr eine Stelle im strategischen Einkauf. De Boer: «Was ist das?» Die Antwort lieferte ihr die Abteilungschefin gleich selbst und stellte sie 1997 an. Anstelle von Bauprojekten koordinierte sie nun Projekte rund ums Fliegen, von der Beschaffung neuer Uniformen bis zur Ausstattung von Lounges und Flugzeugen. Doch die Krisen liessen nicht lange auf sich warten: Am 2. September 1998 erschütterte das Flugzeugunglück vor Halifax die Swissair. Kurz darauf liess sich de Boer nach Brüssel versetzen, wo sie sich mit protestierenden Gewerkschaftern und streikwütigen Piloten herumschlagen musste. Statt der erhofften Ruhe und Sicherheit brachte ihr der Swissair-Job erneut maximalen Druck.

Esther-Mirjam de Boer in Aktion: Heute hält sie Keynotes, in denen sie von ihren Erfahrungen erzählt.
Foto: ZVG

4. Kein Geld und kein Vertrauen

Sie blieb, doch die Probleme der Swissair spitzten sich weiter zu. Lieferanten blieben auf bis zu siebenstelligen Rechnungen sitzen. De Boer stand als Budgetverantwortliche dazwischen. Zeitgleich reizte sie eine Führungsposition eine Ebene unterhalb der Geschäftsleitung. Ihr Team wäre einverstanden gewesen mit der jungen Führungskraft, doch der Chef konnte sie sich nicht als direkte Mitarbeiterin vorstellen. Ihre Direktheit, gepaart mit der Tatsache, dass sie eine Frau war, spielten dabei keine unwesentliche Rolle. Diese klare Ansage hatte eine logische Konsequenz: De Boer reichte die Kündigung ein. Im Nachhinein erwies sich der Schritt als glückliche Fügung, denn so wurde sie nicht in den Sturm des Groundings der Swissair hineingezogen, der sich bereits zusammenbraute.

5. Gescheiterte Nachfolgeplanung

Nachdem sie bei der Swissair auf eigenen Wunsch ausgecheckt hatte, stand de Boer erneut ohne Job da. Zum Glück pflegte sie damals wie heute gute Kontakte zu ihren Lieferanten. Ein Vertrauter vermittelte sie in eine Designmöbelfirma. Die Aussicht klang verlockend: als stellvertretende Geschäftsführerin einsteigen, dann die Leitung übernehmen. De Boer packte an, mit ihrer charakteristischen Direktheit. Doch was logisch erschien – unprofitable Produkte streichen, Qualitätsmängel beheben –, goutierten die Eigentümer nicht. Nach sechs Monaten dann die Ernüchterung: Es passte gar nicht, die Nachfolge kam nicht zustande, stattdessen erhielt de Boer die Kündigung. Die Frist von sechs Monaten nutzte sie, um zum zweiten Mal ihre Selbstständigkeit vorzubereiten.

6. Nach der Ruhe ein Sturm

Die ersten Monate waren mager. Der Durchbruch kam mit einer alten Bekanntschaft aus Swissair-Zeiten: Die Designerin Ida Gut brauchte Unterstützung für einen Pitch bei der Migros. Das Verkaufspersonal sollte komplett neue Berufsbekleidung erhalten. Der Pitch gegen vier etablierte Bekleidungsfirmen wurde zur Schicksalsprobe. Die wirtschaftliche Existenz beider Frauen hing von diesem Auftrag ab, die Nervosität war riesig. Doch ihre Krisenerfahrung hatte de Boer gestärkt: «Erfolg hat, wer trotz existenziellem Druck konsequent und ruhig pitcht», erklärt sie. Sie gewannen den Auftrag, es folgten erfolgreiche Jahre mit namhaften Kunden wie Migros, Nespresso und UBS. Doch dann kam das abrupte Ende: Die Immobilienblase, die in den USA platzte, riss auch die Geschäfte von de Boer in den Abgrund, denn 90 Prozent ihres Umsatzes generierte sie damals mit der UBS. Diese rang mit der Pleite und stornierte über Nacht alle Aufträge. Wieder stand de Boer vor dem Nichts.

Wenn andere die Schotten dichtmachen, legt die passionierte Seglerin erst richtig los – bereit für die elfte, zwölfte oder fünfzehnte Herausforderung.
Foto: ZVG

7. Privat auf Sparflamme

Die berufliche Krise fiel mit privaten Herausforderungen zusammen. Durchwachte Nächte mit der zweijährigen Tochter, ein häufig abwesender Kindsvater – de Boer war am Limit. «Ich hatte mich völlig übernommen und fuhr auf Sparflamme zurück», gesteht sie heute. Diese Zeit prägte ihre Arbeitsphilosophie: Zeit muss effizienter eingesetzt werden, um mehr Wirkung zu erzielen.

8. Geregelter Gang in die Liquidation

Der Wiederaufstieg begann langsam. Ein Verwaltungsratsmandat bei einer Baufirma machte den Anfang – es folgten weitere Mandate. 2013 wagte sie sich dann nebst dem VR-Portfolio an ein Herzensprojekt: Der Laden von «Gris Alliance des Créateurs Suisses» bot über dreissig Schweizer Designschaffenden eine Verkaufsplattform. Die Labels waren am Geschäft beteiligt, brachten Kundinnen und Kunden in den Laden, und unter dem Strich sollten alle von der Frequenz im gemeinsamen Geschäft profitieren. Das Konzept war vielversprechend, die Realität ernüchternd: Der Laden lag an der Europaallee, als diese noch eine grosse Baustelle war – laut, zugig und dreckig. Ausserdem häuften sich intern die Konflikte rund um den Umsatz: Die Kreativen waren ungleich erfolgreich. Das führte zu Missgunst und Neid. Als die SNB den Euro-Mindestkurs aufhob, rutschte der Schweizer Detailhandel in eine Krise, die dem Geschäft den Rest gab.

9. Die Pandemie schlägt auch noch zu

Nebst den Verwaltungsratsmandaten hatte de Boer nun wieder Luft für ein neues Engagement. Für die Förderung von Diversität in der Wirtschaft setzte sie sich schon viele Jahre ein. Ab 2015 unterstützte sie Get Diversity, ein Netzwerk, das auch zur Vermittlung von Frauen für Verwaltungsräte dient. Nach einem Jahr boten ihr die Gründerinnen die Übernahme an. Das neue Geschäft lief, bis die Pandemie ausbrach. Projekte wurden gestoppt oder gar nicht erst gestartet. Berater jagten ihr die Kundschaft ab. Und etwas Grundsätzliches lief ihrer Ansicht nach in die falsche Richtung: De Boer verstand unter Diversität Teams, die mit Menschen unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Lebensläufen und Stärken zusammengesetzt sind. Doch der Markt sah in Get Diversity nur die Förderung von Frauen. «Der Fokus auf Frauen ist eine Sackgasse. Das gilt als woke, und da gehen die Emotionen hoch – berechtigt oder nicht», sagt sie. Firmen, die begriffen hätten, dass es um mehr als Frauen und Männer geht, brauchten eine Vermittlerin mit Frauenfokus nicht.

Genau mit Firmen, die das verstanden hatten, wollte de Boer arbeiten: «Mein Herz schlägt für gut funktionierende, gesunde Firmen, die nachhaltig erfolgreich sind, sich immer wieder erneuern, ihre Strategie sauber auf dem Radar haben und ihre Teams darauf ausrichten.» Dieses Ziel hat sie erreicht. Mit ihrer heutigen Firma Brainboards berät sie Unternehmen bei der Zusammensetzung ihrer Geschäftsleitungen und Verwaltungsräte und sucht die passenden Führungskräfte.

10. Geregeltes Sorgerecht

Die Beziehung zum Vater ihrer Tochter war emotional nicht belastbar. 2018 kam es zur endgültigen Trennung. De Boer zog aus. Das gemeinsame Sorgerecht der zerstrittenen Eltern und die alternierende Obhut waren für die Tochter zu aufreibend. Diese wünschte sich 2020, ausschliesslich bei ihrer Mutter zu leben. Ein Gericht beschloss 2023 schliesslich die Neuregelung des Sorgerechts. Zugunsten des Kindes. Damit fiel eine grosse Last von Tochter und Mutter ab.

Private und berufliche Krisen prägen den Weg von Esther-Mirjam de Boer. Dass weitere Krisen folgen werden, schreckt sie nicht. Im Gegenteil: «Ich funktioniere gut in der Krise. Eine Krise ist nichts anderes als ein Spannungsfeld, das Entscheidungen erfordert. Krise kann ich.» Wenn andere die Schotten dichtmachen, legt die passionierte Seglerin erst richtig los – bereit für die elfte, zwölfte oder fünfzehnte Herausforderung.

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