Virtuelle Realität jetzt auch im Altersheim
Warum Schweizer Senioren und Seniorinnen das Metaverse lieben

Glaubt ausser Mark Zuckerberg noch irgendwer ans Metaverse? Ja, die Generation AHV. Für sie kommt jetzt das virtuelle Reisebüro.
Publiziert: 03.06.2024 um 20:26 Uhr
Seniorin auf virtueller Reise: Das Metaverse ermöglicht digitale Trips, die in der analogen Welt nicht mehr möglich sind.
Foto: imago/Westend61
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Andreas Güntert
Handelszeitung

Wenn es um die Akzeptanz neuer Technologien geht, sind die Meinungen meist gemacht. Junge Menschen, so der verbreitete gedankliche Default, sind sehr technologieaffin und umarmen jede Neuerung – und ältere Menschen freunden sich nicht gerne mit neumodischen Gerätschaften an.

Soweit das Tech-Stereotyp. Im Falle des Metaverse ist solcherlei Denke mehr als ein Vorurteil. Es ist schlicht falsch. Das sagt nicht irgendwer. Das sagt die Uni St. Gallen.

In der Ostschweizer Kaderschmiede wurden kürzlich die Resultate aus der Studie «Die Wahrnehmung verschiedener Metaverse-Anwendungen aus Nutzersicht» bekannt gegeben. Fazit der Studie: «Anders als angenommen sind es nicht die digitalaffinen Mitglieder der Generation Z, die dem Metaverse besonders aufgeschlossen gegenüberstehen», sondern «Personen, die über fünfzig Jahre alt sind, lassen sich am stärksten von den Möglichkeiten des Metaverses inspirieren».

Geringe Qualität kommt eher bei Älteren an

Alte Menschen zeigen sich offener für eine Zukunftstechnologie als die Youngster – erstaunlich. Aber so berichtet es das Institute of Retail Management (IRM) der Universität St. Gallen. Dort liess man Ende 2023 rund 450 Menschen jeden Alters das sogenannte «Metaverse Discovery Grid» besuchen, eine Art Test-Parcours auf 200 Quadratmetern, auf dem sich die Teilnehmer per Meta-Quest-Datenbrille in verschiedenste Virtual- und Mixed-Reality-Anwendungen versenken konnten.

Artikel aus der «Handelszeitung»

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Warum sich vor allem ältere Menschen für das immersive Internet begeisterten, erklärt Thomas Rudolph, Leiter des Forschungszentrums für Handelsmanagement an der Universität St. Gallen, in einer Art Tech-Umkehrschluss: «Die jüngere Generation ist sehr technologieaffin, weshalb ein gewisses Niveau an Qualität und Funktionalität als Standard vorausgesetzt wird.» Weil aber bisherige Metaverse-Applikation in ihrer Darstellung meist bloss typischen 2D-Anwendungen aus den letzten Jahren entsprächen, sei anzunehmen, «dass die bisherigen immersiven Anwendungen insbesondere bei der älteren Generation in ihrer inspirativen Wirkung stärker auffallen, da dieser qualitativ hohe Anspruch an Qualität und Funktionalität an Metaverse-Applikationen bei ihr in geringerem Mass ausgeprägt ist, als dies bei jüngeren Generationen der Fall ist».

Oder vereinfacht gesagt: Digitale Immigranten geben sich schneller mal zufrieden mit Mark Zuckerbergs Online-Theater als solche, die schon im Kinderzimmer mit Smartphone, Laptop und Youtube sozialisiert wurden.

Metaverse-Reisegruppe gesucht

Für Michael Harr, Geschäftsleiter von Pro Senectute beider Basel, ist das HSG-Resultat kein Wunder. Im Gegenteil: «Das erstaunt mich nicht. Gerade bei Menschen über achtzig wird die Lebensqualität oft von Faktoren wie eingeschränkte Mobilität und Einsamkeit getrübt. Im Metaverse aber können solche Leute all das tun und erleben, was ihnen im analogen Leben nicht mehr möglich ist.» Auf diesem Boden will Harr, der schon 2022 virtuelle Landparzellen im Metaverse erwarb, in einem Altersheim ein Metaverse-Labor einrichten liess und so Seniorinnen und Senioren den Zugang ins immersive Internet ermöglichte, jetzt weiterbauen.

Dieses Labor, sagt Harr, gebe es weiterhin, es werde gut genutzt und solle nun ausgebaut werden: «Auf einem unserer Metaverse-Grundstücke werden wir einen virtuellen Check-in-Schalter für Reisen eröffnen. Dort sollen Menschen, etwa solche, die in Altersheimen oder Alterswohnungen leben, auf virtuelle Gruppenreise gehen können.» Nicht unbedingt nur in weit entlegene Weltgegenden, sondern auch mal dorthin in die Nähe, wo man früher schon war, sagt Harr: «Mal an einem Wasserfall ausruhen, endlich wieder Paris sehen – solche virtuellen Ausflüge wollen wir dort anbieten und das ganze Vorhaben auch von einer Schweizer Hochschule wissenschaftlich begleiten lassen.» Zwei Schweizer Stiftungen, die Harr nicht namentlich nennen will, werden ein kommendes Projekt «in grossem Umfang» fördern.

Das Ziel sei, mit dem Vorhaben zusammen mit den Seniorinnen und Senioren herauszufinden, ob das Metaverse für sie einen Mehrwert haben könnte und ob es sich lohnen würde, zukünftig im grösseren Umfang Angebote für diesen Bereich zu entwickeln. Harr sagt: «Zuerst wollen wir nun Altersheime oder Alterssiedlungen finden, deren Bewohnerinnen und Bewohner auf Metaverse-Reise gehen möchten.»

Metaverse als «AHVerse»

Dass sich das Metaverse für Anwendungen im dritten Alter eignen kann, zeigt auch eine Partnerschaft des Facebook-Mutterkonzerns Meta mit dem Telekom-Giganten Telefonica. In Spanien haben sich die beiden Player zusammengeschlossen, um Seniorinnen und Senioren den Zugang ins Metaverse zu erleichtern. Die Workshops finden unter dem Titel «Reconectados, la tecnología no tiene edad» (Wieder verbunden, Technologie kennt kein Alter) statt.

Mark Zuckerbergs Herzensprojekt Metaverse, welches sich bisher noch nicht durchsetzen konnte und durch den Hype um die künstliche Intelligenz aus den Schlagzeilen gedrängt wurde, kann vielleicht noch nicht so schnell bei den «Early Adopters» punkten, sondern rollt das Feld von hinten auf und wird zunächst einmal als «AHVerse» seine User finden. Aber auch die digitalen Immigrantinnen werden es gerne sehen und erleben, wenn sich Qualität und Funktionalität im immersiven Internet verbessern.

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