Viele Touristiker sehnen sich nach Vor-Corona-Zeit
Zurück zum Massentourismus

Die Pandemie hat den Fremdenverkehr noch immer fest im Griff. Dass sich die Branche deshalb nachhaltig verändern wird, ist aber nicht zu erwarten.
Publiziert: 05.09.2021 um 21:14 Uhr
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Aktualisiert: 03.10.2021 um 14:32 Uhr
Thomas Schlittler

Mai 2019. Eine riesige Reisegruppe sorgt schweizweit für Aufsehen: 4000 Touristen aus China, herumchauffiert in 95 Cars, überrollen die Stadt Luzern.

Die Gäste aus Fernost lassen bei den Touristikern die Kassen klingeln. Bei vielen Einheimischen sorgen sie aber für Kopfschütteln. Die «NZZ» resümiert: «Overtourism wird zum Konfliktfeld für die Schweiz.»

Ein paar Monate später breitet sich in China ein «mysteriöses Virus» aus. In der Schweiz bekommt die Tourismusbranche Covid-19 vor allen anderen zu spüren. Im Januar 2020 titelt der Blick: «Luzern bangt um seine Top-Touristen.» Der Rest ist Geschichte. Die Welt aus dem Jahre 2019 gibt es nicht mehr.

Mehr als 2020, aber weniger als 2019

Wie stark Corona den Fremdenverkehr nach wie vor beeinträchtigt, zeigen neue Zahlen des Bundesamts für Statistik. In den Sommermonaten Juni und Juli verbuchte die Hotellerie 5,9 Millionen Logiernächte. Das sind zwar eine Million mehr als 2020, aber noch immer 2,5 Millionen weniger als vor Corona.

Am schlimmsten ist die Situation in grossen Städten wie Zürich, Genf und Basel. Sie leiden, weil Geschäftsreisen vielerorts durch Videokonferenzen ersetzt wurden.

Am Boden sind auch Tourismusdestinationen, die in der Vergangenheit stark auf internationale Gäste gesetzt haben. Insbesondere die Amerikaner, Chinesen und Inder fehlen weiterhin fast komplett.

Unterstützung vom Bund

Nun will der Bundesrat die gebeutelte Branche mit 60 Millionen Franken unterstützen. Diese Woche verabschiedete die Landesregierung ein sogenanntes Recovery-Programm.

«Mit den zusätzlichen Mitteln sollen in erster Linie ausländische Gäste zurückgewonnen, die nachhaltige Tourismusentwicklung gestärkt, der Städte- und Geschäftstourismus wiederbelebt und die Tourismuspartner entlastet werden», heisst es in der entsprechenden Medienmitteilung.

Diese Ziele werfen Fragen auf. Wie passt ein «nachhaltiger» Tourismus mit dem Fokus auf ausländische Gäste und der Förderung CO2-intensiver Städte- und Geschäftsreisen zusammen? Will der Bund einfach möglichst schnell zurück zu einem Massentourismus wie anno 2019?

Neuen Fokus setzen

Das zuständige Wirtschaftsdepartement bestreitet das. «Unter Nachhaltigkeitsfokus ist zu verstehen, dass sich die Marketingorganisation Schweiz Tourismus bei der Bearbeitung der Fernmärkte auf Individualgäste und Kleingruppen konzentriert», sagt ein Sprecher. Zudem solle eine bessere Verteilung der Gäste angestrebt werden – sowohl zeitlich über das ganze Jahr als auch räumlich über das ganze Land.

Philipp Niederberger (32), Direktor des Schweizer Tourismus-Verbandes, sieht auch keinen Widerspruch. Er ergänzt, dass der öffentliche Verkehr vermehrt als Transportmittel dienen soll. Zudem müsse die Aufenthaltsdauer der Gäste verlängert werden.

Touristen bleiben weniger lange in der Schweiz

Das Problem bei diesen Vorsätzen: Sie sind nicht neu. Vor allem die Verlängerung der Aufenthaltsdauer ist ein touristischer Evergreen. Die Realität sieht aber so aus: Zu Beginn der 1990er-Jahre blieben die Gäste durchschnittlich drei Nächte in Schweizer Hotels, 2019 übernachteten sie im Schnitt nur noch zweimal. Der Gretchenfrage weichen Bund und Tourismus-Verband denn auch aus: Wie viele Gäste verträgt die Schweiz? Wie viele Besucher sollen jährlich aufs Jungfraujoch oder den Titlis gekarrt werden, wie viele nach Luzern oder Zermatt?

Vertreter der genannten Tourismus-Hotspots winden sich ebenfalls um eine klare Antwort. Sie betonen zwar, dass das Thema Nachhaltigkeit ganz oben auf der Agenda stehe. Weniger Gäste als vor Corona sind aber definitiv nicht geplant.

Besucher sollen gelenkt werden

Luzern verzeichnete in der Vergangenheit rund acht Millionen Tagestouristen pro Jahr. Dazu 1,4 Millionen Logiernächte. Für Marcel Perren (54), CEO von Luzern Tourismus, liegt das im Rahmen: «Die vielen Tagesgäste sind bei uns auch künftig herzlich willkommen.» Man versuche jedoch, die Besucherlenkung zu optimieren.

Sabrina Marcolin (27), Kommunikationsverantwortliche von Zermatt Tourismus, betont derweil, dass sich Nachhaltigkeit nicht nur auf die Umwelt beziehe, sondern auch auf die Wirtschaft. «Es geht darum, Tausende Arbeitsplätze sicherzustellen. Wir sind deshalb darauf angewiesen, dass die Gäste nach Zermatt zurückkommen.» 1,5 Millionen Übernachtungen wie im Jahr 2019 seien nicht zu viele, so Marcolin weiter. «Wir haben in Zermatt keinen Massentourismus. Es ist deshalb unser Ziel, möglichst schnell wieder auf das Vorkrisenniveau zu kommen.»

Noch mehr Besucher auf Bergen

Von den Betreibern der grossen Bergbahnen ist erst recht keine Mässigung zu erwarten.

Das Jungfraujoch besuchten vor Corona durchschnittlich 2900 Menschen – pro Tag! Auf dem Titlis wurden täglich gar 3400 Gäste registriert.

In Zukunft sollen es tendenziell noch mehr werden. Die Jungfraubahnen eröffneten Ende 2020 die «V-Bahn». Kostenpunkt: 470 Millionen Franken. Die Titlis Bergbahnen haben den Neubau der Bergstation in der Pipeline – nach den Plänen des Architekturbüros Herzog & de Meuron. Diese Investitionen wollen wieder reingeholt werden.

Von Overtourism wollen die Verantwortlichen denn auch nichts wissen. «In meinen Augen ein abgedroschener Begriff», sagt Urs Kessler (59), CEO der Jungfraubahnen. Die Titlis Bergbahnen wiederum lassen ausrichten, dass man nie ein Overtourism-Problem gehabt habe.

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