Auf einen Blick
Bei diesem Lohn dürften ihre früheren Kolleginnen mächtig staunen! Lina M.* (27) arbeitet seit März 2024 in einem 40-Prozent-Pensum als Coiffeuse. Und verdient eigenen Angaben zufolge genauso viel wie Berufskolleginnen im 100-Prozent-Pensum. «Bei zwei Tagen Arbeit pro Woche komme ich monatlich auf gut 5000 Franken netto», sagt die 27-Jährige zu Blick. Sie möchte ihren vollen Namen nicht öffentlich machen, weil sie Angst vor Neid-Kommentaren auf Social Media hat.
Hochgerechnet auf ein 100-Prozent-Pensum beträgt ihr Monatslohn über 10'000 Franken!
Dieser Superlohn wirft Fragen auf. Der Coiffeur-Beruf ist zwar beliebt, aber finanziell meist wenig attraktiv. Ein Blick in das «Lohnbuch Schweiz 2024» zeigt: Für den Beruf Coiffeur EFZ beträgt der Vollzeit-Medianlohn 4190 Franken ab dem dritten Berufsjahr. Das bedeutet, dass eine Hälfte mehr als diesen Mittelwert verdient, die andere weniger.
Möglich macht diesen Verdienst Gina Karpf (35). Die Jungunternehmerin hat sogenanntes «Co-Working als Komplettlösung» lanciert und dazu die Ginafina GmbH gegründet. In Räumlichkeiten gleich beim Bareggtunnel in Baden-Dättwil AG erhalten Coiffeure, Kosmetiker oder Nageldesigner Infrastruktur zur Miete. «Das erspart ihnen hohe Kosten für den Sprung in die Selbstständigkeit – genau daran scheitern viele», sagt Karpf zu Blick.
So kommt der Lohn zusammen
Lina M. arbeitet bei ihr als Coiffeuse. M. rechnet Blick vor, wie sie auf ihren Lohn kommt: «An einem vollen Arbeitstag schaffe ich oft einen Umsatz von rund 1000 Franken.» Dafür müsse sie 3 bis 10 Kunden bedienen – dafür sind durchaus mal lange Arbeitstage von bis zu 12 Stunden nötig. Für längere Haarfärbetechniken wie Balayage (330 Franken) oder Keratin (500 Franken) braucht es weniger Kundinnen am Tag, um auf den Betrag zu kommen. Normale Haarschnitte kosten bei ihr 65 (Herren) bis 100 Franken (Frauen).
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Den Tagesumsatz von M. kassiert Karpf ein. Ende Monat zahlt sie den Gesamtumsatz mit Abzügen wieder aus. Von einem 1000-Franken-Tagesumsatz werden zunächst Mehrwertsteuer (8,1 Prozent) und Kreditkartengebühr (2,5 Prozent) abgezwackt. Bleiben 900 Franken. Hiervon werden dann 161.50 Franken Tagespauschale pro Arbeitsplatz abgezogen. «Darin integriert sind nebst Infrastruktur und Geräten auch Produkte wie Shampoo und Haarfärbemittel, Reinigung, Wartung, Strom, Wasser, Internet, Online-Reservierungssystem, Website und mehr», so Karpf. Mit noch 15 Prozent Abzug für Sozialversicherungen bleiben für Lina M. am Ende des Tages 627 Franken übrig, das macht bei ihr 5016 Franken im Monat. «Das ist mehr, als ich zuvor als Angestellte in Vollbeschäftigung hatte», sagt M.
«Ohne Einsatz geht das natürlich nicht», gibt Jungunternehmerin Karpf zu bedenken. Das Konzept sei nicht für Faule geeignet, sondern «für Ehrgeizige, die etwas Hilfe benötigen.» Ihr Arbeitsmodell sei auf die heutige Generation ausgerichtet: Diese wolle keine strengen Chefs mehr, die stets befehlen, wann was zu tun ist. Umgekehrt gebe es Chefs, die keine Lust auf Angestellte haben, «die hohe Lohnvorstellungen haben, ohne etwas geleistet zu haben.»
Jungunternehmerin sieht Potenzial
Karpf sei für ihr Modell im Gespräch «mit mehreren namhaften Investoren» – die sie nicht alle nennen darf. Denn sie will weitere Standorte eröffnen. Die Anfangsinvestitionen für ihr aktuelles Schönheitscenter habe sie aus eigenen Mitteln gestemmt. Ihr Geld hat sie unter anderem in Immobilien angelegt.
Einer der Investoren ist Lorenz Ilg (55), Präsident der GLP Kanton Schwyz und Internet-Unternehmer. «Selbstverständlich glaube ich an das zukunftsträchtige Konzept des ‹Airbnb für Beauty-Co-Working› und verspreche mir einen wirtschaftlichen Erfolg, mindestens in Form eines Paybacks des Investments, lieber noch eines guten Exits in ein paar Jahren», sagt Ilg zu Blick. Er und Karpf hätten bereits rund 2 Millionen Franken investiert: Sie in Form ihres Pilotbetrieb-Salons in Baden, er in Form von Administrations- und Terminierungs-Software.
Ilg kann sich vorstellen, das Konzept in weiteren Schritten weiteren Wirtschaftszweigen anzubieten. Auch er sagt: «Die heutige Generation will immer freier arbeiten und sich kaum noch nach den Vorgaben eines Chefs richten.»
Coiffeurverband ist skeptisch
Damien Ojetti (59), Zentralpräsident des Branchenverbands Coiffuresuisse, hält das Konzept nicht für revolutionär: «Das gibt es schon lange unter dem Begriff ‹Stuhlmiete› und ist eine Randerscheinung, weil es einige Herausforderungen mit sich bringt.» Rechtlich sieht er das Arbeitsmodell von M. und Karpf in einem Graubereich.
Derzeit seien solche Modelle aufgrund der unzureichenden Abgrenzung auf Gesetzesebene zwischen selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit heikel. Doch gebe es auf Gesetzesebene dank der parlamentarischen Initiative von GLP-Präsident Jürg Grossen Bestrebungen, die Abgrenzung selbständig/unselbständig bald klarer zu definieren. Coiffuresuisse unterstütze beim derzeitigen Stand der Gesetzgebung Modelle wie jenes von Karpf nicht.
Karpf sieht sich rechtlich auf der sicheren Seite. Sie kontert, dass der Verband die Chancen verkenne, die ihr Modell biete. Das Konzept sei nicht vergleichbar mit einer Stuhlmiete: «Vertraglich und versicherungsseitig ist alles sauber aufgegleist.» Sie ist juristisch zwar «Chefin», bietet aber ein höchstmögliches Mass an Selbständigkeit. Sie ist überzeugt, dass Co-Working als Komplettlösung das Potenzial hat, «die Art und Weise unserer Arbeit grundlegend zu verändern.»
Für Lina M. passt gerade alles. An den restlichen drei Tagen ihrer Arbeitswoche bleibe genug Zeit, nebenbei ihr Psychologiestudium zu absolvieren.
*Name geändert