Im Maximum gibts ein Mini-Wachstum. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) rechnet im kommenden Jahr mit einem Wirtschaftswachstum in der Schweiz von 1,1 Prozent. Die sonst stolze Schweizer Wirtschaft befindet sich im Würgegriff von Inflation, globalen Rezessionsängsten und geopolitischer Unsicherheit. Was das für Angestellte, den hiesigen Werkplatz und die Schweiz auf der internationalen Bühne bedeutet, beantwortet die Basler Ökonomieprofessorin Sarah Lein.
Frau Lein, wann haben Sie zuletzt gedacht: «Oha, das ist aber teuer geworden?»
Sarah Lein: Das kommt in letzter Zeit tatsächlich häufiger vor. Wobei ich sagen muss: Ich habe das erste Halbjahr 2022 in den USA gelebt. Da war der gespürte Anstieg der Inflation noch viel stärker! Nahrungsmittel zum Beispiel wurden innert kürzester Zeit um mehr als 15 Prozent teurer. Das spürt man im täglichen Einkauf deutlich. Dagegen ist das, was wir in der Schweiz erlebt haben, moderat.
Tatsächlich liegt die Inflation aktuell bei 1,4 Prozent, also innerhalb des Zielbandes der Schweizerischen Nationalbank (SNB) von 2 Prozent. Warum fühlt es sich denn trotzdem so an, als würde alles teurer?
Das Gefühl ist schon richtig: Obwohl die Inflation zurückging, ist sie ja immer noch positiv. Ein Rückgang der Inflation heisst nicht, dass der Preisanstieg aufhört oder die Preise sogar sinken. Sie steigen nur weniger stark. Und die Währungshüter wollen ja auch gar nicht, dass die Inflation bei null oder sogar darunter liegt. Sie streben mittelfristig eine tiefe, aber positive Inflationsrate an.
Konjunktur, Inflation und Geldpolitik
Dämpft die Inflation die Konsumlust im neuen Jahr?
Letztes Jahr hat die Wirtschaft immer noch von Covid-Nachholeffekten profitiert. 2024 rechne ich nun tatsächlich mit einem etwas schwächeren Wachstum des privaten Konsums. Typischerweise merken wir das zuerst bei der Nachfrage nach dauerhaften Gütern oder bei der Reiselust: Die Leute gehen weniger lang in die Ferien oder weichen auf günstigere Länder aus.
Der Reisebranche steht ein schwieriges Jahr bevor?
Kein Krisenjahr, aber wahrscheinlich ein weniger gutes Jahr als 2023. Einerseits, weil die Nachfrage nach Ferien in der Schweiz aus dem Ausland gedämpft ist. In unseren Nachbarländern läuft die Wirtschaft schlechter, hinzu kommt der teure Schweizer Franken. Das macht Ferien in der Schweiz für Ausländer sehr teuer. Andererseits werden einige Schweizerinnen und Schweizer aufgrund des Kaufkraftverlustes eher Ferien im Ausland machen, wo es günstiger ist. Das dürften die Schweizer Hoteliers spüren.
Und wie werden sich andere Branchen im neuen Jahr schlagen?
Die wenig konjunkturabhängigen und wenig preissensitiven Sektoren wie die Pharmaindustrie dürften die Schweizer Wirtschaft erneut stützen. Chemie und Pharma machen einen Grossteil unserer Exporte aus. Für die restliche Industrie hingegen ist es schwieriger, sie hängt stärker vom Wechselkurs und vor allem von der schwächeren Nachfrage aus dem Ausland ab.
Im Herbst haben gleich mehrere Industriefirmen Jobs gestrichen, etwa Rieter. Rollt nun die grosse Entlassungswelle an?
Das ist unwahrscheinlich. Wir haben aktuell eine Arbeitslosenquote von etwa 2 Prozent, das ist historisch tief. Selbst wenn die Wirtschaft sich weniger dynamisch entwickelt, dürfte die Arbeitslosenquote nicht stark ansteigen.
Mit dem Ukrainekrieg und dem Konflikt im Nahen Osten gibt es gleich mehrere geopolitische Verwerfungen. Wie gross schätzen Sie deren Gefahr für die Schweizer Wirtschaft ein?
Wir haben in den letzten Jahren mit der Pandemie, dem Ausbruch des Ukrainekriegs und dem Anstieg der Energiepreise Krisen erlebt wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht – und die Schweiz kam vergleichsweise gut durch all diese Krisen! Das stimmt mich auch für die Zukunft optimistisch: Die Schweizer Wirtschaft ist resilienter, als wir es manchmal vermuten. Das grösste Risiko für die Schweizer Wirtschaft sehe ich in Deutschland.
Bitte?
Aufgrund der Haushaltslücke herrscht in der deutschen Wirtschaft grosse Verunsicherung. Die Regierung wird wahrscheinlich umfangreiche Sparprogramme beschliessen müssen, die die Konjunktur zusätzlich belasten und eine politisch angeschlagene Koalition hinterlassen. Deutschland ist ein sehr wichtiger Handelspartner der Schweiz. Wenn es dort bebt, dann spüren wir das auch hier.
Sarah Lein (44) ist Professorin für Makroökonomie an der Universität Basel und forscht unter anderem zu Geldpolitik und Konjunkturzyklen. An der Uni Basel ist sie seit fast zehn Jahren tätig, davor war sie Kadermitglied bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB). Sie galt letzten Herbst als Spitzenkandidatin für den freien Posten im dreiköpfigen SNB-Direktorium. Zum Handkuss kam am Ende – wohl wegen der lateinischen Vertretung in der SNB-Führung – der Westschweizer Antoine Martin. Sarah Lein ist deutsch-schweizerische Doppelbürgerin. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.
Sarah Lein (44) ist Professorin für Makroökonomie an der Universität Basel und forscht unter anderem zu Geldpolitik und Konjunkturzyklen. An der Uni Basel ist sie seit fast zehn Jahren tätig, davor war sie Kadermitglied bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB). Sie galt letzten Herbst als Spitzenkandidatin für den freien Posten im dreiköpfigen SNB-Direktorium. Zum Handkuss kam am Ende – wohl wegen der lateinischen Vertretung in der SNB-Führung – der Westschweizer Antoine Martin. Sarah Lein ist deutsch-schweizerische Doppelbürgerin. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.
Wagen Sie einen Blick in die Kristallkugel: Wird sich die Schweizer Wirtschaft dieses Jahr besser oder schlechter schlagen als das Ausland?
Verglichen mit Europa: besser. Verglichen mit den USA: schlechter. Die US-Wirtschaft überrascht mich in letzter Zeit, sie entwickelt sich sehr robust, trotz restriktiver Geldpolitik und wenig neuen Impulsen aus der Fiskalpolitik. Dass wir uns besser schlagen werden als Europa, liegt sowohl an der Struktur der Schweizer Wirtschaft als auch an der starken Zuwanderung in die Schweiz. Sie stützt die Konjunktur.
Das müssen Sie erklären.
Wenn die Wirtschaft hierzulande relativ betrachtet besser läuft, zieht das Arbeitskräfte aus unseren Nachbarländern an. Hinzu kommt der Fachkräftemangel: Viele Schweizer Firmen sind auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen, weil sie in der Schweiz nicht genügend Personal finden. Die Zuwanderer stützen den inländischen Konsum und dadurch die hiesige Wirtschaft.
Die US-Notenbank Fed hat schon Zinssenkungen in Aussicht gestellt. Die SNB hingegen meinte zuletzt, Zinssenkungen stünden «nicht zur Diskussion». Ist die SNB zu zögerlich?
Die SNB ist tatsächlich sehr Inflations-avers im Vergleich zu anderen Zentralbanken. Das hat uns in den letzten Jahren aber auch geholfen. Sie liess die Inflation gar nicht erst so hoch steigen, bevor sie eingriff. In den USA und der Eurozone mussten die Notenbanken die Geldpolitik deutlich stärker straffen, weil sie zu Beginn unterschätzt hatten, wie hartnäckig die Inflation sich halten würde. Die Zinsen sind deshalb viel höher als bei uns. Daher liegen dort auch Zinssenkungen näher als in der Schweiz, weil deren Geldpolitik aktuell deutlich restriktiver ist und sich auch dort die Inflation zurückgebildet hat.
Inflationstechnisch scheint es, als wären wir über den Berg. Korrekt?
Ich würde nicht ausschliessen, dass die Inflation in der Schweiz im neuen Jahr noch mal etwas ansteigt. Das liegt vor allem an den Mieten, die mit den Erhöhungen des Referenzzinssatzes für viele Haushalte in diesem Jahr noch mal steigen werden. Und dann gibt es im neuen Jahr auch noch eine Mehrwertsteuererhöhung sowie erneut höhere Strompreise. Aus geldpolitischer Sicht kann man das aber relativ gelassen nehmen: Selbst wenn die Inflation durch diese Effekte noch mal anzieht, braucht es keine weiteren Zinsschritte durch die SNB. Bei den Mieten wären Zinsanstiege sogar erst einmal kontraproduktiv. Aber für die Bevölkerung heisst das natürlich trotzdem: ein weiterer Kaufkraftverlust.
Also sollten wir alle mehr Lohn einfordern, um das auszugleichen?
In der Tat. Es ist überraschend, dass bei einem derart gut ausgelasteten Arbeitsmarkt, gepaart mit rückläufigen Reallöhnen in den letzten zwei Jahren, die Löhne nicht stärker steigen. Sorgen um Lohn-Preis-Spiralen sind in der Schweiz unbegründet. Arbeitnehmende haben in solchen Situationen eine sehr gute Verhandlungsposition, die sie durchaus nutzen dürfen.