Jillian Manus, wer sitzt nächstes Jahr im Oval Office?
Jillian Manus: Ich glaube, Kamala Harris. Und das dachte ich schon vor Joe Bidens Rückzug. Jeder meint, dass Donald Trump gewinnen wird. Was die Leute übersehen: Wir stimmen hier nicht über eine Person ab. Wir stimmen über eine Position ab, die die Werte Amerikas vertritt. Ich kenne Kamala, seit sie hier in Kalifornien 2010 Generalstaatsanwältin wurde. Sie steht für Integrität, für Wahrhaftigkeit, dafür, das Richtige auf die richtige Weise zu tun. Sie schafft Stärke durch Allianzen. Sie ist ein ehrlicher Mensch, niemand wird sie verleumden können. Kamala wäre eine hervorragende Präsidentin – und das sage ich als Republikanerin!
Hat irgendjemand anderes in der Demokratischen Partei eine Chance, Joe Bidens Nachfolger zu werden?
Sie wären dumm, das zu tun, denn im Moment muss sich die Partei wirklich zusammenschliessen. Wenn jemand aus der Versenkung auftaucht, um Kamala herauszufordern, wird das meiner Meinung nach der Partei noch mehr schaden als die Tatsache, dass Joe Biden so lange im Amt geblieben ist. Ich denke, die Partei wird sich hinter Kamala stellen.
Trump behauptet, dass Kamala Harris leichter zu schlagen ist als Joe Biden. Stimmen Sie ihm zu?
Nein, da stimme ich nicht zu. Natürlich sagt er das. Denn ich glaube, Kamala macht ihm Angst. Sie ist knallhart. Sie ist eine Kämpfernatur. Deshalb kann ich auch die Fernsehdebatte zwischen den beiden kaum erwarten. Ich glaube, sie wird mit Trump den Boden aufwischen!
Haben die Demokraten nicht längst zu viel Zeit verloren, bis sie Joe Biden zum Aufgeben gebracht haben?
Ja, sie haben viel Zeit verloren. Kamala muss jetzt in drei Monaten nicht nur die Partei, sondern das ganze Land vereinen. So wie Obama, der ein Präsident für alle war. Sie muss die Hoffnung zurückbringen. Sie muss natürlich die Spender an sich binden. Und sie muss klar sagen, was ihr Plan ist. Die Republikaner haben einen, er nennt sich «Project 25». Was ist das Gegenstück der Demokraten?
Aber sind die USA bereit für eine farbige Frau im Oval Office?
War das nicht so ähnlich schon die grosse Frage bei Barack Obama? Damals haben auch so viele Leute gesagt: Das werden wir nie erleben! Und dann wurde er Präsident, und zu seiner Amtseinführung kamen Millionen von Menschen, Schwarze wie Weisse. Das war ein Wendepunkt in Amerika. Aber ja: Dieses Thema Weisse gegen Schwarze wird jetzt wieder aufkommen. Denn es hat immer unter der Oberfläche weitergeblubbert. Und was die Tatsache angeht, dass sie eine Frau ist: Ich glaube an den «WoW-Faktor», the Will of the Women. Kamala wird sie mobilisieren, in grosser Zahl.
Wen erwarten Sie als Running Mate?
Es gibt zwei Kriterien: Wer kann neue Wählergruppen erschliessen, und wer kann einen der acht Swing States gewinnen? Mark Kelly wäre ein guter Kandidat. Er war Kampfpilot, Astronaut und Senator für Arizona. Er ist für Waffenkontrolle, weil seine Frau – ebenfalls eine Senatorin – im Amt angeschossen wurde. Und es gibt Josh Shapiro, Gouverneur von Pennsylvania, ebenfalls einem Swing State. Er ist dort sehr beliebt, und er hat einen wirklich positiven Einfluss in Amerika. Er wäre ein sehr, sehr starker Kandidat. Allerdings ist er Jude, das könnte eine Rolle spielen. Ich glaube nicht an Gretchen Whitmer, Gouverneurin von Michigan, weil man kein Ticket mit zwei Frauen machen wird. Aus einem ähnlichen Grund sehe ich auch keine Chance für Raphael Warnock, Senator für Georgia, weil er ebenfalls farbig ist. Starke Kandidaten wären auch J.B. Pritzker und Andy Beshear, die Gouverneure von Illinois bzw. Kentucky. Aber das sind keine Swing States.
Was würde sich in einer zweiten Amtszeit der Demokraten unter Kamala Harris ändern?
Kamala steht für vieles von dem, wofür Joe steht. Ich denke also, vieles würde fortgesetzt und beibehalten werden. Die Gesundheitsversorgung würde ausgebaut werden. Es würde mit Sicherheit mehr grüne Initiativen geben und eine stärkere Regulierung, um Kohlenstoffemissionen zu reduzieren. Ich denke, dass auch die Investitionen in saubere Technologien und in die Infrastruktur beschleunigt würden. Sie würde sich für eine Erhöhung des Mindestlohns auf Bundesebene einsetzen. Natürlich wird die Einwanderungsreform ganz oben auf der Liste stehen. Die NATO würde gestärkt werden, faire Handelspraktiken und der Schutz der Arbeitnehmer und der Umwelt ebenfalls.
Ist der Wahlkampf nach dem Attentat nicht längst zugunsten von Trump entschieden?
Das Attentat auf Donald Trump hat auf jeden Fall erhebliche Auswirkungen auf seine Kampagne. Es hat Trumps Anhänger aufgerüttelt und eine Welle der Begeisterung ausgelöst. Das verschafft Trump einen Vorteil, weil er als widerstandsfähiger und trotziger Anführer dargestellt wird: Jetzt spielt er die Rolle des Märtyrers, des Unbesiegbaren. Es gibt einen Untergrundkult, der Trump als die Wiederkunft sieht. Ein Sohn Gottes. Das wird sie noch mehr ermutigen. Die Aktien von Trumps Medienunternehmen stiegen nach dem Attentat deutlich an. Aber der Kampf ist noch nicht entschieden. Kamala ist eine starke Kandidatin, eine Kämpferin – also das, was die Demokraten jetzt mehr denn je brauchen.
Kamala Harris’ Zustimmungswerte sind miserabel.
Ich glaube nicht, dass irgendjemand Kamala wirklich kennengelernt hat. Man hat sie in eine schwierige Position gebracht. Ihr wurde die Zuständigkeit für die Einwanderungspolitik gegeben, und das ist eine Situation, in der man nicht gewinnen kann. Ja, das ist ihre Achillesferse, und darauf wird Trump zielen. Andererseits: Als das Abtreibungsrecht vom Supreme Court gekippt wurde, machte sich diese Frau auf den Weg durch das ganze Land, um für die Freiheit und die Rechte der Frauen zu werben. Sie ist die grösste Verfechterin dieser Rechte, und die Frauen wissen das. Kamala repräsentiert die Zukunft der Demokratischen Partei.
Vor zwei Jahren war Trump politisch tot, nach dem Sturm auf das Capitol, nach den vier Anklagen. Wie hat er es geschafft, zurückzukommen?
Ich muss Sie korrigieren: Trump war nie tot. Er hat sich nur verstellt. Er hat Opossum gespielt.
Bitte was?
Opossums tun so, als würden sie schlafen oder wären tot, um ihre Gegner zu täuschen. Aber wenn man sich ihnen nähert, sind sie hellwach. Trump hat sich im Stillen neu organisiert. Er hat seine Basis mobilisiert, seine Gefährten in Stellung gebracht. Denn Trump stirbt nie. Er ist wie eine Kakerlake: Die überlebt einen Atomkrieg – Trump auch. Er bedient die Ängste der Menschen hier, besonders die der weissen Arbeiterklasse: vor der Einwanderung, mit dem Bau der Mauer und dem «Make America Great Again». So hat er das Momentum gewonnen. Im Grunde genommen will seine Basis so sein wie er. Sie haben das Gefühl, dass er für sie spricht, weil er ungefiltert ist. Und er ist ein Medienmagnet. Er stiftet Kontroversen an, so bekommt er eine Menge Gratispresse. Er weiss, wie man diese Maschine bedient.
Aber wie hat er es geschafft, die Republikanische Partei vollständig zu dominieren?
Niemand in der Partei – und ich kenne viele meiner Parteikollegen – will Trump die Stirn bieten, weil jeder Angst vor der Gegenreaktion hat. Er verheizt die Leute. Er erfindet massenweise Lügen über sie, was ihre Zukunft als Kandidaten völlig zunichte macht. Er zettelt Streit mit ihnen an, er legt sich mit ihren Familien an, er lässt seine Basis, diese Neonazis, buchstäblich die Häuser dieser Leute stürmen. Wir haben das immer wieder gesehen. Die Menschen haben Angst vor ihm. Und er hat all diese milliardenschweren Unterstützer. Trump gehören alle Grossspender. Wenn man in der Republikanischen Partei finanziert werden will, ist man auf ihn angewiesen. Und ein schlechtes Wort zu einem dieser Spender, und man ist erledigt. Trump ist wie eine Drehtür: Wenn du nicht tust, was er will, bist du raus.
Das heisst, Ihre republikanischen Kollegen sind alles Feiglinge.
Wissen Sie, es gibt zwei Aspekte. Auf der einen Seite gibt es Feiglinge, ja. Aber ich kann es ihnen nicht verdenken. Ich habe gesehen, wie manche dieser Leute völlig zerstört wurden. Und dann gibt es die politische Seite. Auch die gemässigten Republikaner teilen etwa 80 Prozent seiner politischen Ziele. Und viele von uns sehen Trump als Mittel, um diese Ziele zu erreichen: Steuersenkungen, natürlich für die Reichsten, Deregulierung, die nationalistische Ideologie, Ernennung konservativer Richter – alles, was Trump bereits getan und erreicht hat. Ich bin selber eine gemässigte Republikanerin. Ich bin zwar für Waffenkontrolle, ich bin für Abtreibungsfreiheit, aber ich denke auch, dass es eine Einwanderungsreform geben muss. Die Gemässigten wie ich sind jetzt weniger geworden in der Partei. Und jene, die es noch gibt, haben ihre Stimme fast ganz verloren.
Trump hat J.D. Vance als seinen Running Mate nominiert, einen ultrakonservativen Senator aus Ohio. Warum?
Das hat mich erstaunt. Er wird keine neuen Wähler anziehen, er ist einfach die jüngere, gewitztere Version von Trump. Ich habe ihn oft getroffen, als er als VC tätig war. Er ist extrem intelligent. Vor allem aber hat J.D. Vance den Willen und das Zeug zum Präsidenten. Und ich dachte, Trump wird niemanden wollen, der in vier Jahren seinen Posten anstrebt. Ich glaube nicht, dass er sich mit der Nachfolgeplanung befassen wird.
Wie bitte? Trump wird nach vier Jahren nicht aus dem Amt scheiden?
Auf keinen Fall. Er wird alles tun, was er kann, um nicht zu gehen. Es wird zwar schwierig für ihn werden, zu bleiben, das erlaubt die Verfassung nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass er das Unmögliche schaffen wird. Er hat vier Jahre Zeit, um die Verfassung zu ändern, Gott bewahre! Aber eines Tages – ich weiss nicht, wann – wird J.D. Vance Präsident werden und die republikanische Trommel weiter schlagen.
Befürchten Sie einen Bürgerkrieg, wenn Trump die Wahl verliert?
Es wird auf jeden Fall zivile Unruhen geben – egal wer gewinnt. Der Unterschied ist, dass die Trump-Basis gefährlich ist. Ich bin mir nicht sicher, wie viele demokratische Wähler mit Baseballschlägern und Gewehren auf die Strasse gehen würden. Aber die Trump-Basis wird es tun, in Massen.
Was würde in Trumps zweiter Amtszeit anders sein als in der ersten?
Sie würde extremer sein. Er wird die Pressefreiheit aushöhlen …
… das Internet kann er nicht abschalten.
Aber er kann eine Aufsicht für die Medien schaffen, die gegen ihn sind. Es wird mehr Fake News geben als je zuvor. Er wird jene Regierungsangestellten ausmerzen, die er als nicht loyal ihm oder der Partei gegenüber wahrnimmt. Und er wird versuchen, die Bürgerrechte zurückzuschrauben. Was die restriktive Einwanderungspolitik angeht, wird er noch einen draufsetzen. Er hatte ja bereits das H-1B-Visum abgeschafft, das es vielen ausländischen Talenten aus der Technologiebranche ermöglicht hat, hier zu arbeiten. Er wird nun einen noch grösseren Fachkräftemangel schaffen in der Landwirtschaft und in der Tech- und Dienstleistungsindustrie. Das wird ein grosses Problem sein und das Wirtschaftswachstum belasten.
Und aussenpolitisch?
Ich mache mir grosse Sorgen um die NATO. Er wird sie verlassen wollen, aber da wird es genug Widerstand geben, dass er es nicht tut. Aber er verlangt finanzielle Beiträge, die sich viele Staaten einfach nicht leisten können. Und Trump wird die russische Aggression ermutigen, weil er die Ukraine nicht mehr unterstützen wird. Ich hoffe, dass sich alle um Selenski versammeln. Denn in den USA spricht niemand über die wirkliche Gefahr: über die Infiltration Russlands in unseren Wahlkampf. Dass Wladimir Putin Trump als Marionette benutzen wird, wie er es bereits getan hat. Die Amerikaner denken nicht an das grosse Bild. Sie interessieren sich nur für das Mikrobild: die Einwanderung, das Gesundheitssystem usw. Aber sie denken nicht an den wirklich grossen Tyrannen da draussen, der nicht Trump ist, sondern Putin.
Was würde eine zweite Amtszeit für die Handelspolitik bedeuten, Stichwort «America First»?
Wir wissen alle, dass Trump Protektionist ist. Ich denke also, dass die Handelskriege eskalieren werden. Es wird Zölle auf Waren aus China geben, was die globalen Lieferketten belasten wird. Und Trump wird versuchen, die Energiewende rückgängig zu machen. Beides hat grossen Einfluss für uns als Kapitalgeber. Ich denke, wir werden anfangen, unsere Investitionen nach Europa zu verlagern.
Befürchten Sie, dass Trump das Militär gegen seine Gegner einsetzen wird, wie er es unter dem Insurrection Act könnte?
Ich bin mir nicht sicher, ob das gesamte Militär auf Trumps Seite steht. Ich weiss, dass sie bisher Biden sehr respektierten und sich von ihm unterstützt fühlten. Trump will die Militärausgaben verdoppeln, auch, um sich bei ihnen einzuschmeicheln. Aber ich habe mit einigen Generälen gesprochen, und sie haben sehr wenig Respekt und Vertrauen in Trump. Er ist eine tickende Zeitbombe, und das wissen sie.
Werden die Vereinigten Staaten in vier Jahren noch eine Demokratie sein?
Sie müssen! Die Demokratie ist das Fundament unseres Landes. Das ist ein «Alle Hände an Deck»-Moment. Wir müssen die freie Presse schützen, von der wir wissen, dass Trump sie manipulieren wird. Wir müssen die Wähler aufklären. Ich denke, dass die nächste Trump-Präsidentschaft die Menschen in einer noch nie da gewesenen Weise aktivieren wird, die Demokratie zu schützen. Und wer hier immer mehr Einfluss gewinnt, sind die Konzernchefs. Sie treten immer stärker auf den Plan und werden die Lücke in der demokratischen Führung füllen. Damit das Land wieder in einen politischen Diskurs zurückkehren kann, braucht es vor allem eine Amtszeitbeschränkung für Richter, nicht nur auf der Ebene des Obersten Gerichtshofs. Sonst wird die Demokratie wirklich auf jeder Ebene untergraben werden.
Was kann getan werden, um die Gräben in der US-Gesellschaft wieder zuzuschütten?
Eine ganze Reihe von Dingen. Angefangen von Berufsausbildungsprogrammen, um die Ängste zu zerstreuen, dass die Einwanderer den Menschen die Arbeitsplätze wegnehmen. Ich denke, wir brauchen Steuerreformen, damit die Reichen ihren gerechten Anteil zahlen. Wir brauchen eine universelle Gesundheitsversorgung, das ist immer noch eine sehr grosse Lücke hier. Eine Reform des Strafrechts ist ein absolutes Muss, denn im Moment sind die Auswirkungen auf Minderheiten unverhältnismässig gross. Und wir brauchen Aufpasser für Fake News in den Medien, denn das ist ein grosses, heimtückisches Problem.
Sie klingen wie eine Demokratin, nicht wie eine Republikanerin!
Lustig, dass Sie das sagen! Ich habe die Frauenkampagne für die frühere Ebay-Chefin Meg Whitman geleitet, als sie als Republikanerin für das Amt des Gouverneurs in Kalifornien kandidierte. Ich habe auch mit Maria Shriver zusammengearbeitet, als ihr Mann Arnold Schwarzenegger als Gouverneur kandidierte. Arnold ist ja ebenfalls Republikaner. Aber zuvor hatte ich einen Artikel publiziert, in dem ich mich für steuerliche Gerechtigkeit und soziale Integration aussprach und dafür warb, die Worte konservativ und liberal aus unserem Sprachgebrauch zu streichen, weil sie sich gegen die Gesellschaft richten. Und Maria wurde immer wütend, wenn Arnold mich eine «Republikratin» nannte, weil ich in seinen Augen halb Republikanerin und halb Demokratin war.