Eigentlich kann es Donald Trump (78) nur recht sein, wenn US-Präsident Joe Biden (81) den Wahlkampf aufgibt und er die vermeintlich schwache Vizepräsidentin Kamala Harris (59) als neue Gegnerin bekommt. Doch Trump schäumte, als Biden seinen Rückzug bekannt gab. Er wetterte, dass sein Team Zeit und Geld in «den Kampf gegen den betrügerischen Joe Biden» investiert habe. Trump: «Jetzt müssen wir wieder von vorne anfangen.»
Trump hat allen Grund, wütend zu sein. Hat Biden seinen Rückzug bewusst so lange hinausgezögert, um ihn aus dem Konzept zu bringen?
Bisher wähnte sich Trump siegessicher, weil er in Umfragen und TV-Duellen die Oberhand gegen «Sleepy Joe», wie er Biden nennt, hatte. Alles schien für Trump in geordneten Bahnen zu verlaufen, der Parteitag hatte ihn durchgewunken und auch das Ticket mit Running Mate J.D. Vance (39) abgesegnet.
Kritik wird nicht erhört
Nun nimmt der Wahlkampf eine neue Wendung. Statt eines alten, verwirrten Mannes steht ihm eine energiegeladene Kandidatin gegenüber, die es als ehemalige Staatsanwältin Kaliforniens schon oft mit hartgesottenen Burschen aufgenommen hatte.
Zwar dreschen Trump und seine Republikaner bereits heftig auf sie ein: Eine miserable Migrationspolitik, Dummheit, Preiserhöhungen sowie ein «verrücktes Lachen» werden ihr vorgeworfen. Überhaupt sei sie nur eine Alibi-Frau, eine «DEI-Hire», was für Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion steht. Mit andern Worten: Sie sei nur Vizepräsidentin und Präsidentschaftskandidatin geworden, weil sie eine Frau und dunkelhäutig sei.
Doch die Kritik trifft ihr Ziel bisher nicht und bleibt bei den Wählern offenbar grösstenteils ungehört. Kamala Harris liegt in der ersten Umfrage seit Bidens Rückzug bei Reuters/Ipsos mit 44 Prozentpunkten 2 Punkte vor Trump. In der Umfrage vor einer Woche lagen die beiden mit jeweils 44 Punkten gleichauf.
Den falschen Vize?
Seit Bidens Mitteilung zweifeln laut der Washingtoner Zeitung «The Atlantic» Trumps Verbündete an der Auswahl von Trumps Vize-Präsidentschaftskandidaten J.D. Vance. Denn dieser vertritt teilweise noch radikalere Positionen als Trump. Das macht ihn zwar im konservativen Lager beliebt, doch mit Harris als Gegnerin müsste Trump aus strategischer Sicht einen Vize oder eine Vize bestimmen, der oder die möglichst viele Stimmen aus dem gegnerischen oder unentschlossenen Lager holen kann. Aber jetzt noch wechseln? Nach dem Parteitag der Republikaner nicht mehr möglich.
Zudem muss sich Trump jetzt genau jene Kritik gefallen lassen, mit der die Republikaner gegen Biden geschossen hatten: das Alter. Der demokratische Gouverneur Jared Polis (49) dreht den Spiess um und greift Trump an: «Die andere Seite hat einen Kandidaten, der kaum einen Satz herausbringen kann. Er geht auf die 80 zu. Er bringt uns zurück in die Vergangenheit.»
Denn auch Trump ist nicht gefeit vor Versprechern. So hat er sich bei einer Rede auch schon an einem falschen Ort gewähnt, Orbán mit Erdogan sowie seine demokratische Feindin Nancy Pelosi (84) mit der 34 Jahre jüngeren Republikanerin Nikki Haley verwechselt.
Trump auf dem falschen Fuss erwischt
Philipp Adorf, USA-Experte an der Universität Bonn und Mitautor des Buchs «Zerreissprobe für die Demokratie», bestätigt, dass Bidens Rückzug Trump auf dem falschen Fuss erwischt hat: «Die ersten republikanischen Kommentare zeigten, dass man offenbar kaum auf die Kandidatur von Harris vorbereitet war und wenig substanzielle Argumente gegen sie einbringt.» Vor allem falle mit Harris’ Kandidatur das zentrale Argument der republikanischen Kampagne, nämlich die Inkompetenz wegen des fortgeschrittenen Alters, weg.
Dass Biden seinen Rückzug bewusst so lange hinausgezögert hat, glaubt Adorf allerdings nicht. «Wenn schon, hätte man diesen Entscheid am Tag von Trumps Rede selber bekannt gegeben, um so auch die Aufmerksamkeit abzulenken.»
Trump wird zurückschlagen
Die guten Umfragewerte von Harris bezeichnet der Republikaner-Kenner als «kurzfristigen beträchtlichen Enthusiasmusanstieg». Denn schon bald würden die wahlentscheidenden Themen wie Wirtschafts- und Migrationspolitik wieder ins Zentrum rücken und Harris vor Probleme stellen. Zudem dürften die Republikaner Harris vorwerfen, eine Vertreterin des «woken» linksliberalen Establishments zu sein.
Adorf meint: «Bestimmte Merkmale von Harris könnten den republikanischen Strategen gar in die Karten spielen.» Mit andern Worten: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich Trump wieder gefasst hat und Kamala Harris mit neuen Angriffen ins Taumeln bringt.