Die Branchenvereinigung Handelsverband.swiss hat Ende Juli eine achtseitige Beschwerde gegen die chinesische Onlineplattform Temu eingereicht. Sie liegt der «Handelszeitung» vor. Empfänger ist das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Der Verband fordert den Bund auf, Temu in die Schranken zu weisen. Temu breche mehrere Schweizer Gesetze, moniert der Geschäftsführer Bernhard Egger.
Die Vorwürfe sind happig. Temu, die mit extrem günstigen Konsumgütern aus Fernost den hiesigen Onlinemarkt aufmischt, täusche die Kundschaft beim Kaufvorgang, schreibe die Produkte irreführend an, garantiere die Produktsicherheit nicht und entziehe sich der Produkthaftpflicht. Die Plattform biete zudem keine rechtskonformen allgemeinen Vertragsbedingungen an und ziehe auch keine obligatorische vorgezogene Recyclinggebühr für Elektronik ein. Temu verstosse gegen das Produkthaftpflichtgesetz, das Gesetz für unlauteren Wettbewerb und das Umweltschutzgesetz. «Auch ausländische Onlinehändler müssen diese Schweizer Gesetze einhalten», fordert Egger.
Dieser Artikel wurde erstmals in der «Handelszeitung» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.handelszeitung.ch.
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Zalando, Galaxus und Nestlé gegen Temu
Hinter dem Handelsverband.swiss stehen fünfzig grosse Händler, darunter Zalando, Digitec Galaxus und Brack, sowie weitere 350 KMU-Onlineversandhändler, darunter Sprüngli, Bucherer, Nestlé und PKZ. Sie vereinigen 21 Milliarden Franken Umsatzvolumen, das sind rund 70 Prozent des Volumens im Endverbrauchermarkt. Zum Vergleich: Der Umsatz von Temu in der Schweiz wird auf 350 Millionen Franken geschätzt. Die Plattform ist innert kurzer Zeit europaweit populär geworden. Spätestens mit dem Sponsoring der Fussball-Europameisterschaft wurde Temu für viele ein Begriff.
Bereits im Mai hatte ein anderer Detailhändlerverband, die Swiss Retail Federation, eine Beschwerde beim Seco eingereicht. Die Direktorin der Swiss Retail Federation, Dagmar Jenni, brachte den Stein ins Rollen. Doch die jetzige Anzeige geht weiter; sie ist umfassender und schärfer formuliert. Der hiesige Onlinehandel will sich gegen die unlauteren Methoden von Temu wehren.
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Das Seco zeigt sich «desorientiert»
Das Seco hat auf die jüngste Anzeige noch nicht reagiert. Aber es bestätigt, im Austausch mit Temu zu sein. Der «Prozess» stehe am Anfang und könne «noch längere Zeit dauern», so Seco-Sprecher Fabian Maienfisch. Solange der Prozess am Laufen sei, könne man die Öffentlichkeit nicht über Details informieren. Die Rechtsabteilung habe es «das erste Mal mit einer Onlineplattform zu tun, die einem chinesischen Unternehmen zuzuordnen» sei.
Leute, die Kontakt mit dem Seco hatten, beschreiben die Behörde als «desorientiert», weil Temu in der Schweiz offiziell nicht greifbar sei. Temu sieht sich als blosse Warenvermittlerin – ähnlich wie Ebay –, aber nicht als Händlerin. Die Position ähnelt jener der Fahrdienstplattform Uber, die sich nicht als Arbeitgeberin der unter ihrer Marke aktiven Chauffeure und Chauffeusen versteht.
Das Seco bestärkt allerdings die Haltung der Onlinebranche, dass jede Plattform, die gewerbsmässig Produkte in Verkehr bringt, dem Produktsicherheitsgesetz unterstehe – wie es auch für Lebensmittel gilt. Im Fall Temu sei dies aber «herausfordernd», weil der Anbieter keinen Sitz in der Schweiz habe. «Vollzugsbehörden des Produktsicherheitsrechts können keine Massnahmen, zum Beispiel ein Verkaufsverbot, verfügen», sagt das Seco.
Bald offizieller Sitz in der Schweiz
Wie lange dieses Geschäftsmodell funktionieren wird, ist fraglich. Der Widerstand ist erheblich, und Temu hat das realisiert. Im Januar hat der Konzern einen inoffiziellen Sitz in Basel gegründet. Die Firma heisst Whaleco Switzerland. Die operative Gesellschaft darüber ist Whaleco. «Sie ist die Hauptbetriebsgesellschaft von Temu», sagt eine deutsche Sprecherin. Sie will das Gerücht, wonach sich die operative Firma offiziell in der Schweiz niederlassen werde, nicht kommentieren. Dies dürfte «Mitte August» erfolgen, sagt eine Insiderin.
Der Eigner von Temu ist die chinesische Mutterfirma PDD Holdings. Geführt wird sie vom Mitgründer und Verwaltungsratspräsidenten Lei Chen. Der Datenexperte mit US-Doktorabschluss hatte zuvor Erfahrung bei Google, Yahoo und IBM gesammelt. Die PDD operiert aus Dublin und Schanghai und ist an der US-Börse Nasdaq kotiert. Der Konzernumsatz stieg im ersten Quartal gegenüber dem Vorquartal um 131 Prozent. Hochgerechnet dürfe die PDD dieses Jahr 48 Milliarden Franken Umsatz erzielen.
Temu wird sich «einschweizern» müssen
Temu reagierte innert nützlicher Frist und nach mehrfachen Kontakten nicht auf die vom Handelsverband erhobenen Vorwürfe. Das Unternehmen teilte bloss mit, es sei im «Dialog mit den relevanten Interessengruppen» und wolle diesen fortsetzen, um die «Dienstleistungen von Temu weiter zu verbessern», heisst es in blumigen Worten. Man sei bestrebt, «etwaige Mängel zu beheben», und wolle einen «zuverlässigen Kundendienst gewährleisten».
Mit einem neuen Domizil in der Schweiz würde sich die Ausgangslage sowohl für das Seco als auch für Temus Konkurrenz und Temu selbst auf einen Schlag ändern. Temu wäre einklagbar und müsste ihre Plattform «einschweizern». Will heissen: Sie müsste ihr Angebot so ändern, dass alle Gesetze eingehalten werden. Ob dies einfach sein wird, ist offen. Üblicherweise steuern Onlineplattformen ihr Angebot weltweit mit denselben Programmen und Algorithmen.
Schweizer Post privat im Bett mit Temu
Temu agiert weit raffinierter als die ebenfalls kritisierte chinesische Plattform Alibaba. Letztere boomte ab 2015, als viele Schweizer Haushalte bei ihr Kleinsendungen bestellten. Die Ware kam per Post zu sehr tiefen Tarifen des Weltpostvereins in die Schweiz. Nach Interventionen vieler Länder korrigierte der Verein die Versandtarife. Seitdem müssen chinesische Spediteure hohe Posttarife zahlen. Der Boom flachte ab.
Temu lernte daraus: Ihre Logistik basiert auf privatrechtlichen Konditionen. Temus Partner ist Asendia, ein Joint Venture der französischen und Schweizerischen Post und in 32 Ländern tätig. Die Feinverteilung in der Schweiz erfolgt über die Post und den französischen Logistiker DPD. «Die Post hat keine eigene Vereinbarung mit Temu», sagt ein Post-Sprecher. Sie werde für ihre Aufwände (Verzollung, Sortierung und Zustellung) innerhalb der internationalen Logistikkette entschädigt. «Die Entschädigungen sind für uns kostendeckend.»
Damit kontert die Post den Vorwurf des Detailhandels, dass man die chinesische Plattform Temu im Markteintritt subventioniere. Post-Verwaltungsratspräsident Christian Levrat erspart sich potenziell politische Fragen, darunter jene, zu welchen Preisen man mit Temu kooperiere. Seit längerem fordert Swiss Retail Federation nämlich, die Post müsse «die Anzahl Pakete und die Tarifstruktur offenlegen».
Schliesslich stimmt auch der von Medien kolportierte Vorwurf nicht, dass alle Pakete aus China eingeflogen werden. Die Plattform lagert häufig bestellte Produkte in europäischen Zwischenlagern, darunter in Belgien. So ist die chinesische Ware innert weniger Tage bei den Bestellerinnen. Temu mischt den Onlinemarkt auf. Nicht umsonst stürzen sich jetzt die Etablierten auf Temu.