Die gute Nachricht zuerst: Die Schweizer Arbeitsbevölkerung fühlt sich bei der Arbeit weniger gestresst als im vergangen Jahr, wie das «Barometer Gute Arbeit» der Gewerkschaft Travailsuisse zeigt. In der repräsentativen Umfrage gaben 41,7 Prozent an, durch den Job oft oder gar sehr häufig gestresst zu sein. Ein Rückgang um 1,3 Prozentpunkte. Das Stresslevel liegt im langjährigen Vergleich aber nach wie vor hoch. Ebenfalls wenig erfreulich: Der Stress setzt den Befragten mehr denn je zu. So fühlen sich 41,3 Prozent nach der Arbeit häufig emotional erschöpft.
Unter dem Stress leidet immer öfters auch das Privatleben: 36,8 Prozent sagen, dass sie nach der Arbeit häufig so erschöpft sind, dass sie sich nicht mehr um private oder familiäre Dinge kümmern können. Gegenüber Blick berichten zahlreiche Arbeitskräfte von einer hohen psychischen Belastung am Arbeitsplatz. Einige von ihnen erleiden dadurch gar ein Burnout. Öffentlich darüber sprechen will kaum jemand, die Sorge vor negativen Konsequenzen durch den Arbeitgeber ist zu gross.
Markus Ryser (55) ist die Ausnahme. Er ist Bäcker und betreibt die Bäckerei Konditerei Ryser in Hilterfingen BE. Weil er sein eigener Chef ist, muss er keine Konsequenzen fürchten. «Ich bin aktuell wegen eines Burnouts in der Klinik», erzählt Ryser. Dem Bäckermeister ist es wichtig, dass über das Tabuthema gesprochen wird.
Nicht sein erstes Burnout
Der Betrieb einer kleinen Bäckerei ist schwierig. Die Margen sind tief und die Konkurrenz der Grossanbieter unter anderem aus dem Detailhandel ist gewaltig. «Ich arbeite oft zwölf bis 13 Stunden pro Tag», so Ryser. «Das Budget gibt es im Moment nicht her, dass ich zu meiner Entlastung mehr Personal einstelle und ich so einigermassen normale Arbeitszeiten hätte», sagt er. Ryser beschäftigt in der Produktion acht Angestellte und weitere 18 Teilzeitangestellte im Verkauf.
Das immense Arbeitspensum setzt Rysers Gesundheit immer wieder stark zu. Er musste schon mehrfach wegen eines Burnouts eine Auszeit in einer Klinik nehmen. 2014 fiel er deswegen acht Wochen aus. «Danach geht es mir immer für einige Zeit besser», sagt er. Aktuell befindet er sich in der Rehaklinik Hasliberg im Kanton Bern. «Das war nur möglich, weil ich auf ein eingespieltes Team zählen kann und gerade Zwischensaison ist», betont er.
Selbst wenn der Klinikaufenthalt hilft: Der Druck bleibt gross. Vor einiger Zeit war es die Corona-Pandemie, als Ryser das Café im Verkaufsladen in Hünibach BE vorübergehend schliessen musste und ein Grossteil der Abnehmer aus der Gastronomie wegfiel – und so wichtige Einnahmen fehlten. Und dann wäre da noch die dauerhafte Verantwortung, die er für seine Angestellten trägt. Jobs sichern, Löhne zahlen: Auch das kann zu psychischer Erschöpfung führen.
Null Rücksicht trotz Herzinfarkt
Auch Thomas K.* leidet bei seiner Arbeit als Projekt- und Bauleiter unter der permanenten Überbelastung. «Ich muss viel zu viele Projekte betreuen», sagt er zu Blick. K. lebt im Kanton Aargau und möchte anonym bleiben, da er wenige Jahre vor der Pension steht und Angst um seine Stelle hat.
Der Stress führe dazu, dass er oft sehr schlecht schlafe. Vor sechs Jahren landete K. im Spital. «Die Ärzte stellten fest, dass ich innerhalb weniger Tage zweimal einen stummen Herzinfarkt hatte. Ich bin überzeugt, dass der Stress dafür verantwortlich war», erzählt er. Ein stummer Infarkt bleibt oft für Tage oder Monate unbemerkt, hat jedoch die identischen Folgen wie ein klassischer Herzinfarkt. Die Durchblutungsstörungen lassen Teile des Herzmuskels absterben.
An der Arbeitsbelastung hat sich auch danach nichts geändert. «Die Geschäftsleitung hat null Rücksicht genommen, auch wenn ich den Stress im Mitarbeitergespräch angesprochen habe», zeigt sich K. enttäuscht.
Ein Drittel der Befragten möchte weniger arbeiten
Gemäss Umfrage von Travailsuisse müssen mehr als 60 Prozent der Arbeitskräfte regelmässig Freizeit opfern, damit sie ihrer Arbeit hinterherkommen. So überrascht es kaum, dass fast ein Drittel das Arbeitspensum reduzieren möchte. Dies ist bei Personen mit hohen Pensen besonders oft der Fall.
Die Arbeitgeber dürften an der Reduktion der Arbeitszeit jedoch wenig Freude haben. Die Wirtschaft leidet unter einem akuten Fachkräftemangel. Unzufriedene Angestellte könnten dieses Problem aber weiter verschärfen: So geben 15,5 Prozent an, sich stressbedingt ernsthafte Gedanken über einen Stellenwechsel zu machen. Das entspricht hochgerechnet mehr als 800'000 Arbeitskräften.
*Name geändert