«Es war nie meine Art, den Kopf in die Kamera zu halten», sagt Beat Stocker (61) in einem aufsehenerregenden Interview mit der «NZZ am Sonntag». Nun tut er es doch – und das kurz vor Prozessbeginn. Beat Stocker war langjähriger Strategieberater und Geschäftspartner von Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz (65) und ist neben ihm einer der Hauptbeschuldigten im anstehenden Monster-Prozess um die Raiffeisen-Affäre. Es geht um Betrug und persönliche Bereicherung, Stocker und Vincenz könnten jahrelang ins Gefängnis wandern.
«Das ist unüblich», sagt der emeritierte Basler Strafrechtsprofessor Mark Pieth (68) dazu, dass Stocker kurz vor Prozessbeginn öffentlich auspackt. Verboten hingegen sei Stockers ausführliches Interview nicht, betont der Strafrechtsexperte.
Stocker distanziert sich deutlich von Vincenz
Stocker versuche mit dem Interview wohl, sich Sympathiepunkte in der Öffentlichkeit zu holen, so Pieths Einschätzung. Die renommierte Strafrechtsanwältin Simone Nadelhofer (45) pflichtet ihm bei: «Die Richter werden das Interview wohl auch gelesen haben.»
Darin stellt sich Stocker als unwissender Weggefährte von Vincenz dar. Freunde, Komplizen gar? Davon – und damit auch von Vincenz selber – distanziert sich Stocker im Interview deutlich. «Was uns verband, war der Glauben an Geschäftliches», sagt er etwa.
Was die beiden heute noch verbindet, ist neben dem Prozess ein Schuldenberg: Vincenz habe ihm 6 Millionen Franken nicht zurückbezahlt, wirft Stocker seinem ehemaligen Vertrauten vor. Vincenz selber will sich zu den angeblichen Millionenschulden und Stockers übrigen Aussagen nicht äussern. «Kein Kommentar», lässt sein Anwalt nur ausrichten.
«Mit dem Interview wagt er einen Befreiungsschlag»
Was Stocker mit dem Interview allerdings nicht tut, ist, seinen Mitangeklagten Pierin Vincenz ans Messer zu liefern, findet Experte Pieth. «Es geht ihm wohl eher um sich selber. Er will zeigen: ‹Ich bin nicht nur der verlängerte Arm von Pierin Vincenz!› Mit dem Interview tritt er aus dem Schatten, wagt einen Befreiungsschlag.»
Eine nachvollziehbare Strategie, findet Pieth. «Andernfalls besteht das Risiko, dass Vincenz verurteilt wird und Stocker als diffus wahrgenommener Gehilfe einfach eine etwas mildere Strafe erhält.»
«Manchmal erweist sich Schweigen als die bessere Strategie»
Stockers Strategie könnte aber auch nach hinten losgehen. Nadelhofer will kein abschliessendes Urteil darüber abgeben, ob die Kommunikationsoffensive Sinn macht. Sie sagt nur: «Manchmal erweist sich Schweigen in einem Strafverfahren als die bessere Strategie.» Aber: «Er wird sich das gut überlegt haben, in einer solchen Situation überlässt man nichts dem Zufall.»
Ob Stockers Strategie aufgeht, wird sich am Prozess zeigen, der am 25. Januar vor dem Bezirksgericht Zürich losgeht. Die Verhandlung findet nicht etwa im normalen Gerichtssaal statt, sondern aufgrund des regen Interesses im Volkshaus. «Das grosse Interview im Vorfeld macht den Prozess jetzt natürlich noch spannender», sagt Pieth – nicht ohne eine gewisse Vorfreude.