Stille Revolution bei Roche
Das sind die Risiken von Thomas Schineckers neuer Strategie

Der Roche-Chef geht mit dem Pharmariesen dorthin, wo die Konkurrenz am stärksten ist. Das birgt viele Chancen – aber auch Gefahren.
Publiziert: 06.10.2024 um 14:56 Uhr
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Aktualisiert: 06.10.2024 um 15:21 Uhr
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Roche-CEO Thomas Schinecker setzt auf eine neue Strategie.
Foto: keystone-sda.ch

Auf einen Blick

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Seraina Gross
Handelszeitung

Vorgänger Severin Schwan liess die Analysten an seinem ersten Kapitalmarkttag als CEO wissen, sie könnten ihr Geld ja anderswo investieren, wenn es ihnen bei Roche nicht passe, als sie ihm mit ihrer Fragerei zu sehr auf die Nerven gingen. Das ist nicht die Art von Thomas Schinecker.

Er liess sich nicht aus der Ruhe bringen, als er am vergangenen Montag in London dazu gedrängt wurde, bei Umsatz und Margen doch wie die meisten anderen Pharmafirmen etwas weiter als nur bis ins nächste Jahr zu blicken. Warum sollte er auch? Bei Big Pharma neigen die Investoren schnell zu Überreaktionen. Zudem hat er mit dem Hoffmann-Oeri-Duschmalé-Pool eine Besitzerfamilie hinter sich, die 67,5 Prozent der stimmberechtigten Valoren kontrolliert und die ohnehin nicht an eine kurzfristige Guidance glaubt, sondern in Generationen denkt. 

Das ist dann auch schon mit Business as Usual. Thomas Schinecker mag kein grosser Kommunikator sein, welcher Belegschaft und Öffentlichkeit mit Reden zu Visionen und Vielfalt in Verzückung bringt. In der Sache aber kommt das, was er da gerade bei Roche macht, einer Revolution gleich.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Handelszeitung» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.handelszeitung.ch.

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Schinecker hat viel erreicht

Der umgängliche und komplett allürenfreie Konzernchef hat in den anderthalb Jahren, seit er nun in Basel am Drücker sitzt, eine von zu viel Geld verwöhnte, viel zu komplexe Organisation auf schlank und effizient getrimmt. Er hat an Tabus wie dem Glauben an die Überlegenheit dezentraler Strukturen gekratzt und legendäre Roche-Slogans wie «We follow the science» neu definiert nach dem Motto: Wissenschaft ja, aber nur, wenn sie sich in absehbarer Zeit auch in geschäftliche Erfolge umsetzen lässt.

«Doing what patients need next» war gestern, nun dreht sich alles um «The Bar», ein Kriterienraster, das alle Forschungsprojekte passieren müssen, bevor sie in die nächste Phase kommen und womöglich Dutzende, wenn nicht Hunderte Millionen Franken unnötig verbrannt werden.

Zentral ist die Verbesserung der Forschungsproduktivität – ein Dauerthema, seit Roche bei der neuesten Generation von Krebstherapien und bei Alzheimer spektakulär scheiterte und das Feld anderen überlassen musste. Insbesondere die einst legendäre Forschung der US-Tochter Genentech ist in den vergangenen Jahren weit unter ihren Möglichkeiten geblieben.

Ocrevus, das MS-Medikament, das Roche nach dem Ablauf der grossen drei Krebsblockbuster aus der Patsche half, ist eine Neuformulierung des Krebsmedikaments Herceptin; das Krebsmedikament Tecentriq ist ein «Me-too»-Produkt; und bei Tiragolumab, dem zweiten krebsimmunologischen Medikament, lief es alles andere als wie geplant. Die Hämophilie-Franchise rund um Hemlibra darf sich die Forschungsabsteilung der japanischen Roche-Tochter Chugai auf die Fahne schreiben, während der neueste Umsatzrenner, das Augenmedikament Vabysmo, aus der Basler Roche-Forschung kommt. 

The Bar solls richten

Mit The Bar müssen die Wirkstoffe nicht nur wissenschaftlich Sinn machen, sondern auch «einen bedeutenden medizinischen Nutzen adressieren», und es muss klar sein, wie sie erfolgreich kommerzialisiert werden müssen. Eine hohe Hürde: Dreissig Entwicklungsprojekte wurden so bereits gestrichen, zehn von achtzig Wirkstoffen aussortiert.

Auch finanziell wird es enger. Der industrieweit führende Roche-Etat für Forschung und Entwicklung in der Höhe von 14,5 Milliarden Franken wird zwar nicht gekürzt; doch sein prozentualer Anteil gemessen am Umsatz sinkt – das ist ein Novum. Dazu kommt, dass die Wirkstoffe nun auf ihrem ganzen Entwicklungspfad – also von den Tests im Labor bis zu den grossen, teuren Studien an Patienten – von ein und demselben Team betreut werden. Auch das ist eine einfache, aber sinnvolle Verbesserung gegenüber früher, als die Projekte immer von einer Abteilung zur anderen – quasi über den Zaun – geworfen wurden. Der End-to–End-Approach gilt für elf besonders wichtige Krankheitsfelder wie Brust-, Lungen- oder Blutkrebs, Alzheimer, Übergewicht oder Multiple Sklerose.

Die Fokussierung erinnert an Novartis

Dazu kommt eine Fokussierung auf fünf Therapiegebiete, auch das ist ein Bruch mit der Vergangenheit und dem «Wo immer uns die Wissenschaft hinführt» unter Vorgänger Severin Schwan. Roche steht nun für Krebsmedizin, den Kampf gegen neurologische Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson, Immunologie, Augenmedikamente und, seit der Übernahme von Carmot Therapeutics, auch für Medikamente gegen Übergewicht und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes.

Dass hier kommerzielle Chancen liegen, liegt auf der Hand: In allen diesen Gebieten gibt es Hunderte von Millionen, bei Übergewicht gar Milliarden potenzielle Patienten. Zudem werden es immer mehr, weil die Weltbevölkerung immer älter und immer dicker wird.

Doch das haben andere Konzerne schon vor Roche erkannt. Novartis hat schon vor ein paar Jahren eine ähnliche Auswahl an Therapiefeldern getroffen. Entsprechend hoch sind die Hürden für Roche, um hier erfolgreich zu sein. Wer da forscht, wo die grossen Wettbewerber ebenfalls aktiv sind, muss mit seinen Produktneuheiten Klassenbester sein. Für neue Me-too-Projekte haben die Gesundheitssysteme längst kein Geld mehr. 

Bis 2029 soll die neu aufgestellte Entwicklung zwanzig transformative Medikamente liefern, Wirkstoffe also, welche den Behandlungsstandard neu definieren. Sieben von ihnen sind bereits auf dem Markt. Die Spitzenumsätze sollen um 40 Prozent gesteigert werden, auch das ist ambitiös. «Wir haben das schon einmal gemacht», so Pharmachefin Teresa Graham dazu. 

Zusammenlegung der Forschungsstätten bleibt ein No-Go

Ein No-Go bleibt auch unter Schinecker die Zusammenlegung der beiden Forschungseinheiten pRed und gRed, also der Roche-Forschung und der Genentech-Forschung, wie sie viele Analysten gerne sähen. Allerdings ist das Wording nun etwas anders. Unter Severin Schwan wurde die Parallelität zweier sich konkurrenzierender, in etwa gleich starker Forschungseinheiten in einem Konzern noch als Schlüssel zum Erfolg gefeiert; eine Argumentation, die sich angesichts ausbleibender Durchbrüche weniger glaubwürdig halten lässt.

Stattdessen werden jetzt stärker die kulturellen Differenzen zwischen der San Francisco Bay und «good old Basel» in den Vordergrund gerückt. Eine Zusammenlegung würde beide Einheiten auf Jahre hinaus lähmen, heisst es nun. 

Anzeichen, dass der Kapitalmarkt die Roche-Revolution zu honorieren weiss, gibt es. So schreiben etwa die Analysten von Jefferies von «ziemlich offensichtlichen» Kriterien, die geeignet seien, die dringend benötigte Verbesserung der Produktivität der Forschung voranzubringen, wenn sie denn diszipliniert angewendet würden. Im Aktienkurs schlägt sich Schineckers neuer Kurs noch nicht nieder, der Kurs bewegte sich nach dem Kapitalmarkttag kaum. Schinecker und sein Pharma-Team haben noch einen langen Weg vor sich.

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