Auf einen Blick
- Markus Ritter sorgt mit Interviews für Aufruhr und tritt in Fettnäpfchen
- Topführungskräfte in Wirtschaft arbeiten 60–90 Stunden pro Woche
- CEOs behalten ihren Job durchschnittlich 4,6 Jahre, Bundesräte meist länger
Der Mitte-Bundesratskandidat Markus Ritter (57) sorgt mit Interviews für viel Aufruhr, tritt immer mal wieder in ein Fettnäpfchen. So zuletzt als er die Arbeitseinstellung auf dem Lande lobte, denn Städtern dagegen mangelnde Leistungsbereitschaft unterstellte: «Es fehlen Kandidaturen aus der Stadtschweiz. Es fehlen die Leute, die diese Arbeitsbelastung wollen.»
Auf dem Land werde die Work-Life-Balance anders gelebt. Damit wolle er nicht sagen, dass die Städter faul seien. «Das wäre völlig falsch! Sie schaffen auch viel. Aber vielleicht haben sie ein etwas anderes Verständnis davon. Vielleicht denken sie, 45 Stunden oder 50 Stunden sind genug», so Bauernpräsident Ritter im Interview mit dem «Tages-Anzeiger». «Ich bin aber überzeugt, im Bundesrat musst du 60, 70, 80 Stunden arbeiten und präsent sein, anders geht es nicht.»
Auch Städter arbeiten viel
Stimmt, das gilt aber auch für Topjobs in der Wirtschaft: «Ein CEO einer mittleren oder grösseren Firma arbeitet zwischen 60 und 90 Stunden pro Woche», sagt Bjørn Johansson (76). Blick hat bei ihm nachgefragt, wie es denn um die Arbeitsbelastung von Spitzenpositionen in der Wirtschaft steht, also um die Arbeitsfreude von Konzernchefs oder Verwaltungsratspräsidenten, die im globalen, urbanen Umfeld grosse Unternehmen leiten.
Johansson gehört zu den Topheadhuntern in der Schweiz, sein Job ist mit der Arbeit einer Findungskommission einer Bundesratspartei zu vergleichen. Der Norweger, der seit 1968 in der Schweiz lebt, besetzt seit Jahrzehnten Toppositionen in der Wirtschaft. «Es gibt sehr effiziente CEOs, die schneller, entscheidungsfreudiger und besser im Delegieren sind. Die schaffen es eher, die Arbeitslast in einer 60-Stunden-Woche zu bewältigen. Aber darunter geht nichts.»
Denn die Agenda eines CEOs ist mindestens so gut gefüllt, wie die eines Bundesrats. Als Konzernchef müsse man viel reisen, am Wochenende etwa Verwaltungsratssitzungen vorbereiten, die vergangene Woche aufarbeiten, Jahresberichte begleiten, Fabriken eröffnen, verdienten Mitarbeitenden zum Jubiläum gratulieren, den Medien Red und Antwort stehen. «Der Druck von allen Seiten auf den CEO heute ist gewaltig», weiss Johansson, der sein Büro an bester Lage in Zürich hat.
Es fehlen die Unternehmer
Ein Verschleissjob! Entsprechend häufig gibt es Wechsel an der Spitze: «Im Schnitt behält heute ein CEO seinen Job 4,6 Jahre.» Bundesräte bleiben meist länger im Amt, Viola Amherd (62) tritt nach gut sechs Jahren in der Regierung zurück.
Zu viele Bauern in der Regierung sind für den Norweger nicht per se ein Problem, allerdings vermisst er Wirtschaftsführer in der Politik. «Ein Konzern- oder Finanzchef ist zu 100 Prozent in seinem Job gefordert, da fehlt die Zeit, um nebenher als National- oder Ständerat in Bern zu politisieren», erklärt Johansson. Der letzte Unternehmer im Bundesrat war Johann Schneider-Ammann (72), der von 2010 bis 2018 Wirtschaftsminister war.
Es gibt noch eine andere Parallele zwischen Wirtschaft und Politik: das Nachfolgeproblem. So wie die Mitte muss auch Johansson immer wieder mit Absagen von aussichtsreichen Kandidatinnen und Kandidaten kämpfen: «Ich höre immer wieder, ich bin eigentlich ganz zufrieden mit meiner Position als Nummer 2, auf den Topjob habe ich keine Lust.» Auch in der Wirtschaft schimmert das Bedürfnis nach einer besseren Work-Life-Balance immer wieder durch.
Die ländliche Ruhe
Einen grossen Unterschied zu Ritters Sicht aufs ländliche Umfeld allerdings gibt es: Viele CEOs suchen auf dem Land die Ruhe und nicht die Arbeit. «Viele Topführungskräfte leben in ländlichen Gemeinden, wollen in ihrer spärlichen Freizeit der Hektik der Grossstadt entfliehen», weiss Johansson.
Und klar: Die tiefere Steuerlast spielt bei der Wohnortswahl auf dem Lande sicher auch eine Rolle. Aber wenn der Bauer um sechs Uhr morgens die Kühe aufs Feld treibt, könnte er möglicherweise den Schlaf des CEO stören. Sofern dieser nicht schon wieder längst unterwegs zum Flughafen ist.