Der Gebärsaal des Spitals Einsiedeln liegt verwaist da. Seit Mitte Oktober ist hier kein Baby mehr zur Welt gekommen. Das Spital hat die Geburtenabteilung bis Ende Jahr dichtgemacht. Begründung: Fachkräftemangel. Recherchen von Blick zeigen nun: Es steckt viel mehr dahinter als allein die Personalnot im Gesundheitswesen.
Dem Spital Einsiedeln mit seinen 84 Betten und 360 Angestellten laufen die Mitarbeitenden davon. Schon letztes Jahr machte das Spital schweizweit Schlagzeilen, als sämtliche Assistenzärzte geschlossen kündigten. In der Zwischenzeit hat sich das Problem ausgeweitet: Rund ein Dutzend Kader-Mitarbeitende verlassen das Spital bis Ende Jahr. Das Spital verliert damit Leute auf einigen seiner wichtigsten Positionen, etwa die Leiterinnen und Leiter der Pflege, des Notfalls und des Qualitätsmanagements.
«Die Personalfluktuation ist riesig, und die Situation wird immer schlimmer», sagt eine interne Quelle. Blick hat mit diversen ehemaligen und noch angestellten Mitarbeitenden des Spitals Einsiedeln ausführliche Gespräche geführt, viele von ihnen sind oder waren in zentralen Positionen im Spital tätig. Sie zeichnen ein unschönes Bild aus dem Landspital im Innerschweizer Klosterdorf. Zum Schutz der Informantinnen und Informanten gibt Blick weder ihre Namen noch ihre Positionen preis.
Einige erzählen, dass Mitarbeitende extrem lange Schichten ohne Pause schoben. Oder während mehr als der gesetzlich erlaubten Tage am Stück auf Pikett waren. «Wir sind erschöpft», so eine der Auskunftspersonen. «Es wird erwartet, dass man immer erreichbar ist, um einzuspringen.» Mehrere Quellen bezweifeln unabhängig voneinander, ob unter diesen Umständen die Patientensicherheit noch gewährleistet ist.
Spitalakte Einsiedeln
Rekrutierungsoffensive in Deutschland
Auch von Mobbing ist zu hören. Von Leuten, denen nach jahrelanger Arbeit im Spital per Brief und ohne persönliches Gespräch gekündigt wurde – weil sie es gewagt hatten, die internen Abläufe infrage zu stellen. Um der massiven Fluktuation etwas entgegenzusetzen, hat die Spitalbetreiberin Ameos eine Rekrutierungsoffensive gestartet.
Gesucht sind nicht nur Pflegekräfte sowie Ärztinnen und Ärzte, sondern nach dem Aderlass im Kader vor allem auch Führungspersonen: eine Leitung für den Notfall sowie für die Endoskopie etwa. Ameos will ganz offensichtlich vor allem medizinisches Personal aus Deutschland für einen Wechsel ans Spital Einsiedeln begeistern. «Sie möchten in der Schweiz arbeiten? Unsere Arbeitsorte werden Sie mehr als verzaubern! Willkommen, Bienvenue, Welcome!», heisst es in sämtlichen Stelleninseraten für das Spital Einsiedeln.
In einem Stelleninserat für eine Hebamme lockt Ameos mit einem Stundenlohn von 150 Franken. Das ist dreimal mehr als der gewöhnliche Hebammen-Lohn.
Dass vermehrt auf Temporäre gesetzt wird, um den Spitalbetrieb überhaupt noch aufrechtzuerhalten, zieht Folgeprobleme nach sich. «Die Temporären kennen die Abläufe nicht, das führt zu brenzligen Situationen», heisst es von jemandem, der das Spital von innen heraus kennt. Wieder stehe die Patientensicherheit auf der Kippe.
Während einige fürstliche Löhne abstauben, wird andernorts gespart: Mehrere Pflege- und Küchenhilfen sind seit dem Einstieg von Ameos in Einsiedeln im Jahr 2020 entlassen worden. Das Spitalrestaurant wurde auf Selbstbedienung umgestellt. Zusätzlich wurden Essautomaten installiert – an denen die Patienten häufig scheitern, wie es heisst. «Es wird an den falschen Ecken gespart», so eine Quelle.
Das Problem mit den Belegärzten
Zu den Grossverdienern gehört ein Teil der Belegärzte. Sie sind nicht beim Spital Einsiedeln angestellt, nehmen dort aber ambulante Eingriffe vor und sind eine wichtige Einnahmequelle für das Spital. «Die Belegärzte gebärden sich wie Könige», ist seitens des Personals an vielen Stellen zu hören. Einige von ihnen missbrauchten die Pflege als Sekretärinnen, heisst es weiter. Mehrere Informanten berichten zudem übereinstimmend, dass Ärzte am Spital Einsiedeln – sowohl angestellte als auch Belegärzte – ihrer Dokumentations- und Verordnungspflicht nicht nachkämen.
Nur Ärzte sind befugt, Medikamente zu verordnen. «Aber sie weigern sich, digital zu arbeiten», erzählt jemand. An anderer Stelle ist davon zu hören, wie Ärzte Verordnungen auf Fresszetteln vornehmen. Die eigentliche Verordnung im Krankenhausinformationssystem (KIS) nimmt laut den Quellen die Pflege vor. Das Problem: Wenn im System die Pflege statt der Ärzteschaft die Medikamente verordnet, ist das anhand der Kürzel nachweisbar – und die Pflege trägt die Verantwortung, wenn im schlimmsten Fall jemand wegen eines Medikamentenfehlers stirbt.
Kanton nimmt Spital unter die Lupe
Die Vorgänge am Spital Einsiedeln sind auch dem Kanton nicht verborgen geblieben. Vor einem Jahr stellte er das Spital mehrere Tage lang auf den Kopf. «Razzia» wird die kantonale Inspektion Spital-intern genannt. Ein halbes Jahr später liegt das Ergebnis auf dem Tisch: ein 130-seitiger Bericht mit Empfehlungen zuhanden des Spitals. Blick verlangte gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip Einsicht in den Bericht. Das Gesuch wurde vom zuständigen Schwyzer Amt für Gesundheit abgeschmettert. Den Anspruch auf dem Rechtsweg durchzusetzen, würde Monate dauern.
Am 7. November dieses Jahres fuhr der Kanton erneut im Spital ein. Das zeigt ein internes Schreiben, das Blick vorliegt. Adressiert ist es an den Spitaldirektor, gezeichnet vom zuständigen Schwyzer Regierungsrat Damian Meier (49). Steht zur Debatte, dem Spital nach der erneuten Kontrolle Leistungsaufträge zu entziehen? Der Kanton hält sich dazu auf Anfrage bedeckt. Man könne mittels Auflagen und Bedingungen sicherstellen, dass ein Spital seine Leistungsaufträge auch tatsächlich erbringe. Ob dem Spital Einsiedeln solche Auflagen gemacht wurden, gibt der Kanton aber nicht preis.
Gesundheitsdirektor Meier sagte in einem Interview mit dem «Bote der Urschweiz» kürzlich: «Die Situation rund um die Geburtsabteilung im Spital Einsiedeln erfüllt uns mit Sorge.» Und weiter: «Trotz Fachkräftemangels müsste es gelingen, diese wichtige Leistung weiterhin erbringen zu können.» Der Kanton sei über die Schliessungsentscheide jeweils kurzfristig informiert worden.
Für die Informanten, mit denen Blick gesprochen hat, ist so oder so klar: «Das Spital muss geschlossen werden.» Und zwar lieber früher als später. «Es ist fünf vor zwölf.» Ameos auf der anderen Seite weist sämtliche Vorwürfe im Gespräch mit Blick entschieden zurück.
Belegung leidet
In der Region hat sich längst herumgesprochen, dass im Spital Einsiedeln einiges im Argen liegt. «Im September waren von mehr als 80 Betten zwischenzeitlich nur 16 belegt», erzählt eine Quelle. So sei auch die Geburtenabteilung nicht nur wegen Personalmangels geschlossen worden – sondern auch, weil die Mütter ihre Babys lieber in Lachen oder Schwyz zur Welt bringen. Ameos gibt zur Auslastung keine Zahlen bekannt, sagt auf Anfrage von Blick lediglich, diese liege «im normalen Bereich».
Ob der Gebärsaal im Januar tatsächlich, wie von Ameos angekündigt, wiedereröffnet wird? Insider haben daran ihre Zweifel. «Sie werden es niemals schaffen, bis dahin genügend Personal zu rekrutieren und einzuarbeiten», so eine der Quellen. Und selbst wenn: Ob die werdenden Mütter zum Gebären nach Einsiedeln zurückkehren, sei dahingestellt.
Transparenzhinweis: Der Gesundheitsdienstleister Ameos hat nach Publikation des Artikels rechtliche Schritte gegen die Ringier AG eingeleitet. Die Parteien haben sich daraufhin im Rahmen des Schlichtungsverfahrens auf eine Änderung des Titels und einzelner Formulierungen geeinigt. Die Redaktion bedauert die entsprechenden Formulierungen in der früheren Version des Artikels. Darüber hinaus wurde Stillschweigen vereinbart.