Der Mann vom Bratenbrot-Stand vor dem Einkaufszentrum Letzipark in Zürich-Altstetten ist frustriert: Er hat zu wenige Hamburger dabei. Bereits kurz nach 12.30 Uhr hat er nur noch ein paar Hotdogs und Braten im Angebot.
«Nach der Ankündigung von Gesundheitsminister Alain Berset und auch wegen des schlechten Wetters habe ich mit deutlich weniger Kunden gerechnet», seufzt Marco Bernet (52). Der Streetfood-Verkäufer könnte jeden zusätzlichen Franken gebrauchen, denn 2020 war ein Jahr zum Vergessen, alle Festivals und Events abgesagt.
Noch immer sind zu viele unterwegs
Diese Momentaufnahme aus der Mittagspause im Homeoffice in Zürich zeigt: Noch sind viel zu viele Menschen unterwegs, arbeiten in den grossen Dienstleistungszentren in der Nachbarschaft anstatt zu Hause. Und das, obwohl der Bundesrat am Mittwoch dazu aufgerufen hat, weniger unterwegs zu sein, physische Kontakte zu beschränken und damit das Infektionsrisiko zu senken. Angekommen ist das noch nicht.
Die Erfahrung des Hamburgerverkäufers lässt sich wissenschaftlich belegen. Denn die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich berechnet, wie mobil die Bevölkerung in der Schweiz ist. In den sogenannten Aktivitätsindikator fliessen sowohl Verkehrsdaten wie auch Kreditkartendaten oder Bargeldbezüge am Bankomaten ein.
«Die Ansteckungsrate muss halbiert werden»
Das heisst, der Indikator zeigt, ob wir zu Hause oder im Büro arbeiten, im Geschäft vor Ort oder online shoppen und ob wir Bargeld beziehen, um im Ausgang einen draufzumachen. «Wenn die Mobilität genügend sinkt, dann sinken die Kontakte und damit auch die Ansteckungen. Und das würde dann das Gesundheitssystem wieder entlasten», hofft KOF-Chef Jan-Egbert Sturm (51).
Wie weit wir runterfahren müssen, machte Gesundheitsminister Alain Berset (48) am Mittwoch klar: «Wir können es drehen, wie wir wollen – die Ansteckungsrate muss halbiert werden.» Und dafür auch die Mobilität.
Mobilität sank bis jetzt kaum, Infektionszahlen stiegen an
Allerdings sank diese erst nach den Herbstferien – immerhin ist sie seitdem nicht wieder angestiegen. «Der Rückgang ist bescheidener und langsamer als im Frühjahr», sagt Sturm. «Damals sahen wir schon im Februar, also noch deutlich vor dem Lockdown, einen schnellen und starken Rückgang der Mobilität.» Das sei der grosse Unterschied zwischen der ersten und zweiten Welle.
Wie der Indikator zeigt, hatten die vom Bundesrat am 18. Oktober verhängten Massnahmen – Maskenpflicht in öffentlich zugänglichen Innenräumen, Menschenansammlungen nur bis 15 Personen, Sitzpflicht in Bars und Homeoffice-Empfehlung – kaum eine Wirkung auf die Mobilität der Schweizer.
Und auch nicht auf die Infektionszahlen, obwohl sich das nach zehn Tagen zeigen müsste. Am 16. Oktober lagen diese bei etwa 3600 – am Donnerstag vermeldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 9386 Neuinfektionen, 287 Spitaleinweisungen und 31 Todesfälle.
SBB fahren nicht runter, das Ausland schon
Da stellt sich die Frage: Werden die am Mittwoch ergriffenen Massnahmen dafür sorgen, dass die Schweiz weniger unterwegs ist? Der öffentliche Verkehr geht nicht davon aus. Auf BLICK-Anfrage schreiben die SBB: «Nach heutigem Stand – und in Absprache mit dem Bundesamt für Verkehr (BAV) – wird auf Angebotskürzungen im Fern- und Regionalverkehr grundsätzlich verzichtet.»
Andere Staaten gehen es nicht so zurückhaltend an: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (66) sagte, es brauche eine «generelle und systematische Reduzierung» der Kontakte, «am besten um bis zu 75 Prozent». Merkel hat denn auch drastische Massnahmen in Kraft gesetzt. So dürfen sich nur noch Angehörige von zwei Haushalten treffen. Zudem gilt ein Reiseverbot, und zwar auch innerhalb Deutschlands.
Österreich soll vor einem zweiten Lockdown stehen, in Frankreich kommt er auf jeden Fall. Bars, Restaurants und Läden müssen schliessen. Auf die Strasse darf nur noch, wer einen zwingenden Grund nachweisen kann. «Bleiben Sie so weit wie möglich zu Hause», forderte Präsident Emmanuel Macron (42).
Eine Aufforderung, die weder Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (60) noch Gesundheitsminister Berset über die Lippen brachten. In zehn Tagen wird sich zeigen, ob das ein Fehler war.