Die Corona-Pandemie brachte die grosse Reue: Aus Profitdenken hatte Novartis 2015 die Impfsparte verkauft, wodurch die Schweiz keine eigene Impfstoffproduktion mehr hatte. Dabei spielte das Land mit dem Serum- und Impfinstitut Bern seit 1898 eine führende Rolle bei Impfungen in der ganzen Welt inne – gegen Pocken, Diphtherie, Polio, Grippe und vieles mehr.
Zu Beginn der Corona-Krise sah sich die Schweiz punkto Immunisierung vom Wohlwollen ausländischer Pharmafirmen abhängig. Nun hat sich das Blatt gewendet, grösstenteils dank des Pharmazulieferers Lonza. Millionen Menschen weltweit hoffen auf das mRNA-Vakzin von Moderna, für das Lonza heuer in Visp VS und den USA den Wirkstoff herstellt – 400 Millionen Impfdosen.
Novartis als Impfstoffhersteller zurück
Die Schweiz hat aber noch mehr zu bieten als den Glückstreffer mit Lonza. So ist das über Jahrzehnte entwickelte Know-how des Serum- und Impfinstituts nicht einfach vergessen gegangen. Die von Janssen Vaccines übernommene Nachfolgefirma des Instituts in Bern-Bümpliz war massgeblich an der Forschung und Entwicklung des Covid-19-Impfstoffs von Johnson & Johnson beteiligt.
Was vor Corona niemand erwartet hätte: Auch Novartis ist wieder in grossem Stil in die Impfstoffherstellung eingestiegen. Bereits in den nächsten Wochen starten die Anlagen im Novartis-Werk in Stein AG mit dem sterilen Abfüllen der Impfdosen von Biontech/Pfizer – es geht um hohe Millionenvolumen.
Novartis-CEO Vas Narasimhan (44) belebt wieder, was sein Vorgänger Joe Jimenez (61) beerdigt hatte. Ein Zufall ist das nicht. Narasimhan leitete zwischen 2012 und 2014 die Entwicklungsabteilung der damaligen Novartis- Impfstoffsparte. Der ehemalige Arzt sagt zu BLICK: «Als führendes Gesundheitsunternehmen sehen wir uns in der Pflicht, unsere Fertigungskapazitäten zu nutzen, um die Versorgung mit Covid-19-Impfstoffen und Therapeutika weltweit zu unterstützen.»
Stein füllt Biontech-Pfizer-Impfstoff ab
Kapazitäten und nötige Fachkräfte wurden in der Novartis-Fabrik in Stein AG gefunden. Der Leiter des auf Innovationen spezialisierten Riesenwerks, Joachim Momm, befindet sich in den letzten Vorbereitungen.
«Normalerweise braucht es eineinhalb Jahre, um die Technologie für die Produktion eines Medikaments intern zu transferieren», erklärt Momm. Jetzt mache das Team zusammen mit dem externen Partner Biontech/Pfizer alles in ein paar Monaten. Dafür wurden fünf Millionen Franken investiert.
In Stein abgefüllt wird unter anderem der mRNA-Wirkstoff, der seit diesem Monat in Marburg (D) hergestellt wird. Auch das ist kein Zufall: Novartis hat seine Fabrik für biotechnologische Substanzen in Marburg letzten Herbst an Biontech verkauft – samt Weitergabe aller qualifizierten Mitarbeiter. Es ist die grösste mRNA-Wirkstoff-Fabrik von Biontech weltweit, sie produziert jährlich bis zu einer Milliarde Dosen.
Novartis produziert heuer 50 Millionen mRNA-Impfdosen
Novartis wird zudem in diesem Quartal erstmals selber mRNA-Wirkstoff herstellen, und zwar im Tiroler Werk in Kundl (A) für die deutsche Curevac. Von diesem Vakzin hat der Bund fünf Millionen Dosen bestellt – fast so viele wie von Biontech/Pfizer (6 Mio.). 50 Millionen Dosen will Novartis in diesem Jahr produzieren. Die Basler investieren dafür 20 Millionen Euro (22,1 Mio. Fr.) und schaffen bis zu 100 hochqualifizierte Jobs.
Fazit: Schweizer Firmen werden mehr Corona-Impfstoff herstellen und abfüllen, als im Inland gebraucht wird. Wenn bei der Impfstoffproduktion eine Abhängigkeit zwischen der Schweiz und der EU besteht, dann ist die EU eher auf die Schweiz angewiesen als umgekehrt. Sollte die EU den Export von Vakzinen in die Schweiz mit einer Ausfuhrbewilligung erschweren, um sie notfalls für die Eigenversorgung zu behalten, wäre das ein Eigengoal.
Nationalismus bei der Impfstoffproduktion wäre für die Schweiz und die EU auch wegen der Abhängigkeit von Rohstoffen aus aller Welt ungünstig. Lonza-Präsident Albert Baehny (68) sagte dem BLICK: «Es gibt heute bei den Rohstoffen keine Knappheiten, aber zukünftige Engpässe sind nicht auszuschliessen.» Um den Impfwirkstoff für Moderna zu produzieren, brauche es 500 Rohstoffe. «Sollte ein einziger fehlen, können wir nicht weiter produzieren», betonte Baehny.