«Die Pflege ist ein anstrengender, aber auch ein schöner Beruf», sagt Katharina Fierz (59). «Der Job gibt unglaublich viel zurück, ist erfüllend, vielfältig, nah am Menschen und bietet vielfältige Karrieremöglichkeiten.» Fierz hat es von der Pflegefachfrau Psychiatrie bis zu Professorin gebracht, leitet das Institut für Pflege an der ZHAW in Winterthur ZH.
Man glaubt, das Funkeln in den Augen zu sehen, wenn Fierz am Telefon mit Begeisterung über ihre Berufung spricht. Doch auch sie weiss, die Pflegebranche steckt auch ein Jahr nach dem Applaus in einer grossen Krise. Die Corona-Pandemie hat die Defizite im Pflegebereich schonungslos offengelegt.
Das grösste Problem: Es fehlt an genügend Pflegefachkräften. Konkret: Es wird jedes Jahr nur knapp die Hälfte des aktuellen Bedarfs ausgebildet, bis ins Jahr 2030 werden 65'000 zusätzliche Pflegende benötigt, zeigt eine Studie. Das bei einem Bestand von etwa 180'000 Personen, die in Pflegeberufen in der Schweiz arbeiten.
Corona deckt Schwächen auf
Die Lücke könnte allerdings noch grösser werden. Michael Simon (48) ist besorgt: «Internationale Umfragen zeigen, dass es nach der Pandemie zu einem Ausstieg vieler Pflegender aus ihrem Beruf kommen könnte.» Simon ist Professor für Pflegewissenschaft an der Universität Basel.
Seine Kollegin Franziska Zuniga (53), die am Institut den Bereich Lehre leitet, pflichtet ihm bei: «Die Branche war schon vor Corona am Limit, die Pandemie hat das noch verstärkt.» Auch Katharina Fierz sagt: «Corona hat die Schwächen aufgedeckt, die es schon vorher gab.»
Ihr Vorschlag: Den Stellenwert der Pflege im Gesundheitssystem stärken. «Pflegende sollte nicht länger als Kostenfaktor und -treiber angesehen werden, sondern als Wissens- und Kompetenzträgerinnen im Gesundheitswesen mit einem eigenständigen Beitrag an die Gesundheitsversorgung.»
Was Pflege leisten kann
Ihre Forderung erläutert Fierz mit einem Beispiel. Es geht ums «Füdliputzen» von betagten Patienten: eine Tätigkeit, die bei den allermeisten Menschen Ekel hervorruft, gut aus- und weitergebildeten Pflegefachkräften allerdings vielfältige Beobachtungs- und Diagnosemöglichkeiten bietet. Während der Körperpflege lasse sich beispielsweise die Körpertemperatur oder der Zustand der Haut überprüfen, abklären, ob der Patient genug getrunken habe oder ob sich jemand selbständig auf die andere Körperseite drehen oder in einen Dialog treten könne, erklärt Fierz.
Für Fierz, Simon und Zuniga ist klar: Es müssen nicht nur mehr Leute ausgebildet werden, es muss auch alles dafür getan werden, um die Fachkräfte im Beruf zu halten. Das Problem: «Viele steigen hochmotiviert in den Beruf ein, stellen aber nach ein paar Jahren und Arbeitsortswechseln frustriert fest, dass sie nicht so arbeiten können, wie sie gerne möchten», sagt Zuniga. Knapp die Hälfte aller diplomierten Pflegefachpersonen steigt vorzeitig aus dem Beruf aus, meist noch bevor sie 35 Jahre alt sind.
Die Hälfte verlässt den Job
Die Gründe dafür sind vielschichtig, Simon spricht von einem «Praxisschock» nach der Ausbildung: «Nicht wenige haben Angst vor der Verantwortung für die Gesundheit ihrer Patienten. Eine Verantwortung, die sie nun alleine tragen.» Von einer anderen Befürchtung erzählt Fierz: «Der Angst, unter Druck Fehler zu machen.» Und der Druck nimmt stetig zu, die Anerkennung sinkt, für «urpflegerische Handlungen wie das Sich-Kümmern gibt es keinen Platz mehr», so Fierz.
Im Pflegeheim gehe es zum Beispiel darum, den Patienten ein gutes Lebensende in Würde zu bieten. Doch oftmals fehle die Zeit, um nur schon ein kurzes Gespräch zu führen. Das Ergebnis: «Pflegeheime und Spitex haben schon seit längerem grosse Probleme, genügend – und vor allem qualifiziertes – Personal zu finden», stellt Zuniga fest. Was die Situation verschärft: Wir werden älter, bleiben, so lange es geht, in den eigenen vier Wänden. Und kommen dann oft mit multiplen Erkrankungen ins Pflegeheim. Das bedeutet: Die Ansprüche ans Personal steigen.
Was zudem den Wiedereinstieg nach einer Mutterschaftspuase in die Akutpflege erschweren kann: Die rasante Entwicklung von Medizin und Behandlungsmethoden erhöhen die Anforderungen an die Pflege derart, dass schon nach ein paar Jahren das einst Erlernte in gewissen Fachrichtungen nicht mehr aktuell ist – und dadurch der Wiedereinstieg für viele eine kaum überwindbare Hürde darstellt.
Es braucht mehr Ausbildung
Von der «Pflege als Karrieremöglichkeit am Bett» spricht Simon – und meint damit vielfältige Aus- und Weiterbildungsoptionen und Stellenprofile für Pflegefachpersonal im Spital, im Pflegeheim oder bei der Spitex. Bei der Ausbildung, aber auch beim Verbleib im Beruf setzt die sogenannte Pflegeinitiative an, die in der Sommersession in den eidgenössischen Räten Thema sein wird – und vielleicht noch dieses Jahr zur Abstimmung an der Urne kommt.
Investitionen in die Ausbildung des Pflegepersonals zahlen sich aus. «Eine Bildungsoffensive auf allen Stufen hat in den USA einen jahrzehntelangen Pflegenotstand beseitigt», erzählt Simon. Viele Pflegende ergreifen den Beruf aus der Motivation heraus, anderen Menschen zu helfen. «Doch langfristig lässt sich der Bedarf nur decken, wenn auch an der Bezahlschraube gedreht wird», ist der Professor für Pflegewissenschaft überzeugt.
Streitpunkt Bezahlung
Doch wie gut steht das Pflegepersonal in der Schweiz bezüglich Bezahlung da? «Unterdurchschnittlich», sagt Simon und verweist auf eine Studie der OECD aus dem letzten Jahr. Diese zeigt, dass das Schweizer Pflegepersonal in den Spitälern nur auf 85 Prozent des schweizerischen Durchschnittslohns kommt – der drittletzte Platz in der Auswertung. In den meisten OECD-Mitgliedsstaaten liegt der Verdienst über dem nationalen Schnitt, zum Beispiel in Deutschland oder den Niederlanden.
Dem widerspricht Vergütungsspezialist Urs Klingler (62) vehement: «Schweizer Pflegepersonal verdient im internationalen Vergleich gut bis sehr gut.» Die Branche stehe auch im Vergleich mit der Bezahlung in der Industrie gut da. «Sanitärinstallateure, Informatikerinnen, Maurer, Spezialisten im Detailhandel, Primarlehrer oder Kindergärtnerinnen verdienen eher weniger», sagt Klingler. Der Salär-Experte hat nachgerechnet, kommt für Pflegekräfte im Spital auf einen Durchschnittslohn von rund 80'000 Franken im Jahr. Allerdings kann dieser Lohn je nach Ausbildung und Erfahrung stark variieren.
Kaufkraftbereinigt, das heisst unter Berücksichtigung des Preisniveaus in einem Land, erhält eine Pflegefachkraft in der Schweiz gemäss der OECD-Statistik im Schnitt 63'700 US-Dollar jährlich (umgerechnet rund 59'000 Franken). Das ist allerdings doch mehr als in den meisten anderen Staaten. Nur: Die wenigsten Pflegefachkräfte arbeiten Vollzeit, kommen also gar nicht auf den OECD-Schnitt.
Deshalb hat Klingler einen Vorschlag: «Wer in der Intensivpflege arbeitet, der sollte nicht mehr als 30 bis 35 Stunden pro Woche arbeiten müssen, bei gleichem Lohn. Denn es braucht viel Zeit, um nach der Arbeit wegen der hohen Belastung wieder abschalten zu können.» Die Aussichten, dass mehr finanzielle Mittel in das Pflegepersonal investiert werden, sind allerdings derzeit nicht gerade rosig.
Dabei liesse sich durch noch qualifizierteres – und entsprechend bezahltes – Pflegepersonal viel Geld sparen. Gemäss Pflegewissenschaftler Simon zeigten Studien, dass sich langfristig so Milliarden von Franken einsparen liessen.