Am SBB-Hauptsitz in Bern-Wankdorf ist es gespenstisch ruhig – die allermeisten Mitarbeitenden sind wieder im Homeoffice. Konzernchef Vincent Ducrot hält die Stellung, und er hat im Gegensatz zu seinem Vorgänger auch wieder ein eigenes, wenn auch bescheidenes Büro. Auf dem Regal stehen zahlreiche Modellzüge und -busse und sonstige Souvenirs aus seiner langjährigen Karriere im öffentlichen Verkehr.
Blick: Ein Loch zwischen den Schienen hat kürzlich den Bahnverkehr zwischen Genf und Lausanne komplett lahmgelegt. Was macht der SBB-Chef in einem solchen Fall? Beten?
Vincent Ducrot: Keineswegs! Ich wurde etwa innert einer halben Stunde alarmiert. In diesem Fall war schnell klar, dass es ein grösseres Problem ist und wir es nicht wie üblich innert zwei, drei Stunden lösen können.
Wie so oft bei Pannen war die Information an die Reisenden katastrophal. Warum klappt das nicht?
Ich gebe es zu: Wir waren nicht gut und werden Massnahmen ergreifen. In diesem Fall war es so, dass der Fernverkehr von Bern und die Bahnhöfe von Lausanne aus gesteuert werden – was zu unterschiedlichen Entscheidungen führte. Wir prüfen nun, die Steuerung des Fernverkehrs in Bern zu zentralisieren, was die Kundeninformation im Störungsfall vereinfachen würde.
Die Pandemie trifft die Bahn stark. Wie hoch sind die finanziellen Auswirkungen?
Derzeit liegen wir bei zwei Milliarden für die Jahre 2020 und 2021, wenn Sie die Differenz zwischen erwartetem Gewinn und dem Verlust nehmen. Wir erwarten, dass die Rechnung bald auf eine dritte Milliarde ansteigen wird. Das könnten wir in drei, vier anspruchsvollen Jahren kompensieren, falls wir wieder 90 Prozent der Reisenden haben. Die Unternehmen haben noch keine hundertprozentige Rückkehr der Mitarbeiter ins Büro, viele sind ein, zwei Tage pro Woche im Homeoffice.
Trifft das vor allem die 1. Klasse, weil vor allem viele Führungskräfte Homeoffice machen?
Wir können bei Bedarf 1.-Klass-Wagen zu 2.-Klass-Wagen deklassieren. Im Moment ist unsere wichtigste Erkenntnis, dass sich die Mobilität vor allem in den eher industriell geprägten Orten wie Freiburg und dem Tessin gut erholt, im Gegensatz zu den Ballungsgebieten, wo der Dienstleistungssektor dominant ist.
Die Strassen sind wieder voll. Findet eine langfristige Verlagerung statt?
Nicht alle Strassen, nach unseren Beobachtungen. Allerdings ist bei einer langen Reise die Maske nicht angenehm, da nehmen manche gerne das Auto. Längerfristig aber verlagert sich der Verkehr von der Strasse auf die Schiene, wegen der Staus, wegen der fehlenden Parkplätze in den Städten. Und, wichtig: Wir gewinnen im Freizeitverkehr. Derzeit befördern wir im Verhältnis mehr Passagiere an Samstagen und Sonntagen als unter der Woche. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Tagen sind sehr gross: Der Montag ist durchschnittlich, der Dienstag sehr stark, der Mittwoch gut, der Donnerstag wieder sehr stark und der Freitag sehr schwach.
Werden die verbleibenden Fahrgäste höhere Preise bezahlen müssen, um das Defizit zu kompensieren?
Nein, sicher nicht! Seit 2016 hat es keine Preiserhöhung gegeben. Es sind zwar nicht die SBB, die die Preise festlegen, sondern die Alliance SwissPass, die 240 Unternehmen umfasst und die von einem Gremium mit neun Personen gelenkt wird, von denen nur eine die SBB vertritt. Die Allianz könnte die Preise durchaus erhöhen, aber das ist weder für 2022 noch für 2023 geplant.
In Ihrer Strategie 2030 wollen Sie Kosten senken und die Produktivität steigern. Wie geht das?
Ein Beispiel: Unsere Lokführer fahren heute nur während 50 Prozent ihrer Zeit mit Passagieren, der Rest wird für Vorbereitung, Übernahme des Zugs, Ausbildung etc. verwendet. Wenn wir diesen Anteil erhöhen können, ist viel gewonnen – und für die Lokführer ist es erst noch attraktiver.
Und bei den Einsparungen?
Wir werden die Verwaltung stark verkleinern, Projekte priorisieren, Investitionen reduzieren, indem wir uns auf das konzentrieren, was am wichtigsten ist. All dies trägt zu einer klaren Strategie bei: dem Fokus auf dem Kerngeschäft.
Sie wollen an Wochenenden einen anderen Fahrplan für Freizeitverkehr anbieten. Was ist geplant?
Das typische Beispiel ist der Verbier-Express, der im Winter am Wochenende direkt von Genf nach Le Châble führt. Denkbar wären auch Direktverbindungen von Bern nach Chur oder ins Tessin, weil diese Verbindungen in der Freizeit mehr nachgefragt werden als nach St. Gallen unter der Woche. Wir werden auch sehr kurzfristig Züge dort einsetzen können, wo viele Reisende das Wochenende verbringen. Das ist mit dem heutigen Computersystem noch nicht möglich.
Sie wollen auch das Tarifsystem vereinfachen …
… ich habe oft den Spruch gehört, dass ich erst in Rente gehen könne, wenn es ein neues Tarifsystem gibt …
Also nie!
(Lacht) Nein, ich werde eines Tages gehen! Heute haben wir zwei verschiedene Tarifsysteme. Das eine ist kilometerabhängig, das andere besteht aus Zonen in den regionalen Tarifverbunden. Die Neugestaltung des Systems sieht vor, dass es nur noch ein System mit einer einzigen Logik gibt.
Riskieren Sie nicht Widerstand der Kantone, die oft ihre eigenen Tarifzonen haben?
Jeder muss seinen Teil zu einem typisch schweizerischen Kompromiss beitragen. Für die Kunden ist es zu kompliziert geworden. Wir müssen wieder einfacher werden. Dazu arbeiten wir an mehreren Varianten. Bis zum nächsten Sommer werden wir mehr wissen.
Fahrräder sind beliebt, und dieser Trend wird sich wahrscheinlich noch verstärken. Wie werden die SBB darauf reagieren?
Wir werden die Steuerwagen an den Enden der Züge in Multifunktionswagen umbauen, damit es Platz gibt für Fahrräder. Alle Gepäckabteile werden für Fahrräder geöffnet, und wir werden Personal im Zug haben für den Verlad.
Wird die Reservierungspflicht beibehalten?
Ja, das ist wichtig für die Planung. Sonst wollen zu viele Leute mit dem Fahrrad auf den gleichen Zug. Wir werden jedoch ein einfacheres System einführen, bei dem der Fahrgast zum Beispiel auch annullieren kann.
Um pünktlicher zu werden, sollen die Fahrzeiten gestreckt werden. Klappen die Anschlüsse dann noch?
Das kann ich garantieren. Das wird alles aufeinander abgestimmt. Leicht längere Fahrzeiten führen zu mehr Reserven und machen den Fahrplan stabiler. Unser Ziel ist es bereits heute, 98,9 Prozent der Anschlüsse sicherzustellen, und das schaffen wir. Bei 92 Prozent der Fahrten haben wir weniger als drei Minuten Verspätung.
In den nächsten Jahren werden Hunderte von neuen Zügen geliefert. Welche Neuerungen gibt es für die Reisenden?
Für uns ist vor allem wichtig, dass die neuen Züge von Anfang an zu 100 Prozent funktionieren. Deshalb kaufen wir bei Stadler bewährte Modelle, die keine Kinderkrankheiten haben. Was die Neuerungen betrifft, so ist ein Zug immer noch ein Zug. Besondere Aufmerksamkeit wurde den multifunktionalen Räumen gewidmet, die gross genug sein müssen, um Fahrräder, Kinderwagen, Ski unterzubringen.
Sie setzen vermehrt auf Nachtzüge. Hat das Flugzeug den Preiskrieg nicht längst gewonnen?
Allein die Trassenpreise eines Nachtzugs sind höher als die gesamten Betriebskosten eines Flugzeugs für die gleiche Strecke. Preislich werden wir nie wettbewerbsfähig sein. Es ist ein Nischenmarkt, aber es gibt eine grosse Nachfrage.
Alle die Massnahmen sind schön und gut – aber müsste die Strategie nicht visionärer sein?
Wir investieren in diesem Jahr 5,5 Milliarden Franken und werden bald die 6-Milliarden-Grenze überschreiten. Nur wenige Schweizer Unternehmen können so viel Geld investieren. Meine Kollegen wissen, wie sehr ich diese technologischen Innovationen liebe. Aber wir in der Schweiz machen es auf unsere Weise: alles in kleinen Schritten. Das ist unsere Stärke.
Wie sieht Ihre langfristige Vision für die SBB aus?
Die Bahn wird sich stark weiterentwickeln, vor allem technologisch: Wenn die Züge miteinander kommunizieren, so können sie in viel engerem Abstand zueinander verkehren als heute, wo es aus Sicherheitsgründen grosse Abstände braucht. Künftig bremst die gesamte Kette, wenn der vorderste bremst. Damit lässt sich die Kapazität des Netzes massiv steigern. Der zweite Punkt ist der Ausbau der Vorstadtbahnhöfe, etwa Zürich-Oerlikon oder Renens bei Lausanne. Künftig werden auch dort Intercitys halten, damit nicht alle Passagiere in den Hauptbahnhöfen umsteigen müssen.
Sie haben bei Ihrem Start gesagt, dass Sie zwei Jahre brauchen, um Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit in den Griff zu kriegen. Jetzt sind bereits eineinhalb um …
Wir kommen gut voran. Die Pünktlichkeit der Züge ist von 90,6 Prozent auf 92 Prozent gestiegen. Ein Teil des Fortschritts wurde paradoxerweise wegen des Rückgangs der Fahrgastzahlen erreicht. Dann planen wir die Baustellen besser. Nach wie vor zu tief ist die Zuverlässigkeit unserer Züge. Daran arbeiten wir und erhöhen die Ressourcen in den Werkstätten. Ah, und noch etwas, das ich Ihnen gerne zeigen würde ...
Ja?
(Er nimmt sein Tablet) Hier als Premiere: Sie sehen, wie der CEO der SBB über die Pünktlichkeit informiert wird. Mit dieser Grafik kann ich täglich sehen, auf welchen Linien wir pünktlich sind und auf welchen nicht. Schauen Sie sich die Fernverkehrslinien an, die gestern alle rot waren. Das ist unsere grösste Baustelle.