Auf einen Blick
Wenn VW hustet, kriegen Schweizer Autozulieferer eine Lungenentzündung. Zumindest wenn man der Panikmache der Verbände und manchem freimütigen Patron im Land glauben will.
Was stimmt: «Die Exporte unseres Sektors Automotive sind im Vergleich zum Vorjahresquartal im dritten Quartal um 14,8 Prozent eingebrochen», sagt Jean-Philippe Kohl, Vizedirektor und Leiter Wirtschaftspolitik des Branchenverbands Swissmem. Und das habe natürlich wesentlich mit Deutschland zu tun. Die Alarmstimmung ist daher verständlich. Wenn so grosse Automobilhersteller wie VW von Schweizer Zulieferern weniger Produkte brauchen, weil sie immer weniger Autos auf dem Weltmarkt verkaufen, dann zieht sich der Absatzrückgang wie ein Rattenschwanz durch die gesamte Lieferkette.
Davon betroffen ist in der Schweiz ein gigantischer Industriezweig: bis zu 600 Automobilzulieferer, mehr als 32’000 Beschäftigte und ein Branchenumsatz von 13 bis 15 Milliarden Franken. Die Zulieferfirmen spüren die Folgen dieser Automobilkrise. Vielfach kommt es zu Umsatzrückgängen, die Betriebe reagieren mit Kurzarbeit und Einstellungsstopps.
Aber nicht in einem Ausmass, welches dazu führen würde, dass sie zugrunde gehen. Die Zulieferer diversifizieren ihre Produktportfolios und gehen dorthin, wo es besser läuft – und sei es nur mit dem bestehenden Automobilprodukt in eine angrenzende Branche. Häufig ist ein Antrieb, ein Werkstoff oder ein Stecker nicht nur fürs Auto gut, sondern funktioniert auch in Industriemaschinen, Medtech-Produkten oder Satellitenteilen. Die Resilienz dieser Betriebe ist grösser als gedacht.
Auch jene von Pureplayern, die 100 Prozent für die Autoindustrie arbeiten. Autoneum ist ein prominentes Beispiel dafür. Die Firma ist regional stark diversifiziert – das hilft, die Folgen der Krise in Deutschland zu mildern. Das Klumpenrisiko «Deutsche Premium-Originalhersteller» hat Autoneum dahingehend aufgelöst, indem das Unternehmen mit 67 Werken global aufgestellt ist. Das macht Autoneum flexibel genug, die Produktion an einzelnen Standorten herunterzufahren, wenn es notwendig ist, ohne grössere Probleme zu bekommen. So kürzt das Unternehmen in seinem Werk in Bocholt (D) bis 2027 fast die Hälfte von 395 Stellen in der Produktion. Es verzeichnete insgesamt zuletzt aber steigende Gewinne und stellte bis Ende Jahr in Aussicht, den Umsatz mindestens zu halten sowie die Gewinnmarge von 5 auf 5,5 Prozent zu erhöhen.
Auch Ronal mit Sitz in Härkingen SO ist der deutschen Automobilkrise nicht hilflos ausgeliefert. Die Gruppe macht 1,3 Milliarden Franken Umsatz, ist ein Hersteller hochwertiger Leichtmetallräder, beliefert Volkswagen und Mercedes in Deutschland und hat weltweit 13 Produktionsstandorte: in Europa von Polen bis Portugal, in der Nafta-Region und in Taiwan, mit einem grösseren Schwerpunkt in Europa. Daher hängt das Unternehmen wohl etwas stärker von kriselnden deutschen Autofabrikanten ab. Aber: Das Ziel ist, vermehrt chinesische Hersteller in Europa zu beliefern, zum Beispiel BYD mit einem Werk in Ungarn. Autoneum und Ronal haben jeweils den Hauptsitz, die Entwicklung und die Geschäftsleitung in der Schweiz, die meisten Aktivitäten aber im Ausland.
Mehrere Eisen im Feuer
Die meisten Schweizer Autozulieferer sind aber nicht solche Pureplayer, sondern haben mit ihren Produkten mehrere Eisen im Feuer. Maxon mit Hauptsitz in Sachseln im Kanton Obwalden liefert allerlei Motoren für verschiedene Märkte: Flachmotoren werden in grossen Stückzahlen in dieselbetriebenen PKW und LKW eingesetzt. Die Antriebe fänden sich aber auch in autonomen mobilen Robotern, in medizinischen Pumpen, in der Prothetik, in Satelliten und in der Raumfahrt, erklärt Maxon-Chef Eugen Elmiger. Das Cash-Polster der Firma war mit mehr als 100 Millionen Franken für 2023 komfortabel. Und das, obwohl der Umsatz um 6 Prozent auf 664 Millionen Franken gesunken war.
Der Mühlenhersteller Bühler macht vom Umsatz von 3 Milliarden Franken mittlerweile rund 25 Prozent mit der Division Advanced Materials. Der Geschäftsbereich Druckguss bedient dabei vornehmlich die Automobilindustrie. Dessen Druckgussmaschinen mit Hochdrucktechnologie gingen weg wie warme Semmeln, vorangetrieben von der Transformation zur Elektromobilität und zu neuen Fahrzeugarchitekturen, wie sie Tesla anbietet.
Chinesische Automobilhersteller kopieren das und fragen die Maschinen von Bühler und ihren Wettbewerbern nach. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis im Zuge der Umstellung auf die Elektromobilität und veränderte Fahrzeugkarosseriekonzepte auch Volkswagen, Mercedes, BMW und Stellantis diese Maschinen im grossen Stil kaufen. Daran ändert die derzeitige Delle im Geschäft von VW nicht viel. Man kann also sehen: Nicht nur Autoindustriespezialisten halten die VW-Krise aus, sondern auch jene Zulieferer, die zu einem mehr oder weniger grossen Teil in diesem Geschäft exponiert sind.
Der Chiphersteller Sensirion in Stäfa produziert Sensoren für die Vernetzung von Maschinenparks und andere Industriebereiche ausserhalb des Automobilsektors, aber auch Sensoren für Klimaanlagen sowie Nebelsensoren für Autos. Ein Rückgang in der Automobilproduktion tut weh, die Firma ist aber breit genug aufgestellt, um das zu verkraften. Sie kündigte Anfang November an, angrenzende Wachstumsfelder zu erschliessen. Der Fokus liege dabei insbesondere auf dem datenbasierten Servicegeschäft und auf Sensorlösungen für die medizinische Atemluftanalyse. Nach 233 Millionen Franken Umsatz im Jahr 2023 sollen es dieses Jahr zwischen 250 bis 280 Millionen Franken werden.
Wenn Sensirion schon den Druck im Automobilgeschäft spürt, dann liegt das weniger an der geringeren Stückzahl produzierter Wagen als vielmehr an der Weiterentwicklung von Sensoren, Chips und Software. Bislang waren mehrere Sensoren in einem Vehikel für die Bordelektronik notwendig. Jetzt haben die vielen Funktionen auf einem einzigen Chip Platz. Der US-Hersteller Rivian hat die Software entwickelt, die das möglich macht. Nun ist VW derzeit hinter Amazon der zweitgrösste Aktionär des US-Unternehmens; er wird in den nächsten zwei Jahren mehrere Milliarden Dollar einschiessen und so zum grössten Aktionär aufrücken. Das bringt den privilegierten Zugang zur fortschrittlicheren und kostengünstigeren Ein-Chip-Technologie. Davon profitieren nicht nur Volkswagen, sondern auch die Entwicklungsabteilungen der Zulieferer mit einem guten Draht zu VW.
Autozulieferer in Medizintechnik und Raumfahrt gefragt
Die Liste der Hoffnungsträger in der Schweizer Autozulieferindustrie ist endlos. Kistler mit Sitz in Winterthur macht industrielle Prüfsysteme und Prozessmessungen. Dies nicht nur für die Automobilindustrie, sondern auch für die Luft- und Raumfahrt, die Medizintechnik, die Halbleiter- und Elektronikindustrie. Die Überwachung und Kontrolle von Montageprozessen ist die Grundlage jeder industriellen Produktion.
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LEM mit Sitz in Meyrin GE ist ein Sensorhersteller und einer der Marktführer in der Produktion von Komponenten zur Messung von Strom und elektrischer Spannung. Seine Produkte sind gut für Antriebe, erneuerbare Energien und in der Stromversorgung sowie für Präzisionsmaschinen. Sie finden in der konventionellen Automobilindustrie und bei Herstellern von Batterieautos Anwendung.
Die EMS-Gruppe GR liefert Spezialkunststoffe an sämtliche Autohersteller für alle Antriebsarten und Automarken. «Lokale Werkschliessungen können zwar zu Verschiebungen zwischen den Regionen und Automarken führen, diese haben aber deshalb für EMS keine Auswirkungen», sagt ein Sprecher. Denn EMS beliefert nicht nur den Automobilsektor, sondern viele Industrien. Die Spezialkunststoffe kommen etwa in allen Brillengestellen und Sonnenbrillengläsern, in Kaffeemaschinen, im Gesundheitswesen für Gehhilfen und Abnehmspritzen sowie in der Energieversorgung zum Einsatz.
Was Schweizer Automobilzulieferer zudem resilienter macht: Sie wandern in Karawanen mit einer Produktion den Automobilherstellern nach, wenn es mal zu Verlagerungen kommt. Das hilft ihnen, den Hauptsitz, die Geschäftsleitung und die Entwicklungsabteilung in der Schweiz zu behalten und hier weiter zu investieren.
Vorwärts gedacht findet Industrieguru Sven Siepen vom Unternehmensberater Roland Berger deshalb: «Der nächste Schritt muss jetzt sein, sich im Engineering und in der Entwicklung noch enger an die Automobilhersteller zu binden, um sich in Teilen der Wertschöpfungskette unabdingbarer zu machen und einen umso höheren Wert für den Hersteller anzubieten.» Denn diese lagern ihre Aktivitäten immer mehr aus, weil sie merken, dass sie nicht mehr in der Lage sind, mit mehreren tausend Angestellten auch noch eine innovative Software zu entwickeln – siehe VW und Rivian.
Pioniere in Krisenzeiten
Ohnehin musste sich die Schweizer Zulieferindustrie schon immer fit trimmen. Das fängt damit an, dass die Schweiz nicht über so dominante Zulieferriesen wie ZF und Bosch in Deutschland verfügt und sich daher flexibler aufstellen muss. Und geht weiter mit den Wechselkursen, die diese stark exportorientierte Industrie seit bald zwei Jahrzehnten aushalten muss. Beginnend beim Wechselkurs von 1.60 Franken zu einem Euro ist der Euro heute weniger als einen Franken wert, was Exportgüter deutlich verteuert hat.
Und dennoch haben es die Schweizer Betriebe geschafft, effizienter und produktiver zu arbeiten. Insbesondere die Automobilindustrie ist hier ein Pionierfaktor für die Swissmem-Firmen. Die grossen Automobilhersteller stecken in der Krise, allen voran VW. Das bringt aber die vielen Industriezulieferer in der Schweiz nicht um, weil sie mehr können als nur Auto.