Die öffentlichen Verkehrsbetriebe haben ein Problem. Und damit auch die SBB. Sie haben in der Pandemie viele ihrer treusten Kundinnen und Kunden verloren. Weil viele im Homeoffice arbeiten, wird weniger mit der Bahn ins Büro gependelt.
Empfindlich schmerzen besonders die Aussteiger beim Kassenschlager Generalabonnement (GA). Vor der Corona-Krise besassen über 500'000 Personen ein GA. Heute sind es nur noch 395'000 treue Kunden, die sich das GA noch leisten wollen. Auch der Verkauf der Halbtax-Abos ist zurückgegangen. Allerdings weniger stark, um knapp 1 Prozent auf 2,7 Millionen Abos. Die SBB fuhren so jedenfalls im ersten Halbjahr 2021 einen Verlust von fast 400 Millionen Franken ein.
«Wir müssen diejenigen zurückholen, die weniger gereist sind», sagt SBB-CEO Vincent Ducrot (59) zu SRF. «Wir haben ein starkes Wachstum im Freizeitmarkt, aber einen grossen Rückgang bei den Pendlern.» Die Alarmglocken läuten. Die SBB müssen handeln. Um ihre treusten Kunden zurückzugewinnen, nimmt die Bahn viel Geld in die Hand.
«Vergebens auf Post gewartet»
Mit Gutscheinen wollen die SBB nun den Pendler-Rückgang bekämpfen, die GA-Kundschaft bei der Stange halten. Doch wer einen dieser 500-Franken-Rabatte bekommt und wer nicht, kommt einer Lotterie gleich. Dabei gucken langjährige SBB-Kunden in die Röhre, wie Recherchen zeigen.
Die Bahnkunden schimpfen über Willkür. «Mein Mitbewohner und mein Bruder haben 500-Franken-Gutscheine erhalten, ich habe vergebens auf Post gewartet», klagt Dominic W.* (25). Der Aargauer ist sauer. «Ich habe schon sieben Jahre ein GA, mein Kumpel erst seit zwei Jahren. Das ist einfach nicht fair.»
Weber ist kein Einzelfall. Silvana M.* (27) hatte fünf Jahre lang ein GA. Dann stieg sie während der Pandemie auf ein Halbtax um. «Mein Freund hat dieselbe Ausgangslage wie ich und hat einen Gutschein gekriegt. Ich ging leer aus», sagt sie. Nachgehakt bei den SBB hat M. nicht.
Hartnäckigkeit zahlt sich aus
Dominic W. dagegen schon. Er wollte die «Ungerechtigkeit», wie er sie nennt, nicht auf sich sitzenlassen. Er brauchte ohnehin wieder ein GA, weil sein Arbeitgeber die Angestellten langsam wieder in die Büros zurückbeordert und die Universität wieder zum Präsenzunterricht übergegangen ist. W. fragt am SBB-Schalter nach. «Zuerst sagte man mir, wenn ich keinen Gutschein habe, dann hätte ich halt keinen», erinnert er sich.
W. bleibt hartnäckig. Dann lenken die SBB-Angestellten plötzlich ein. «Sie machten sich im Intranet schlau, beriefen sich auf eine interne Kulanzregelung und rechneten mir den 500-Franken-Gutschein plötzlich doch an», berichtet W. So wie ihm geht es nicht allen. «Die treuen SBB-Kunden, die nichts davon wissen oder nicht nachhaken, sind die Dummen», sagt er.
«Kein Anspruch auf Kulanz»
«Ein grundsätzlicher Anspruch auf Kulanz besteht nicht», sagt SBB-Sprecher Reto Schärli zu Blick. «Andere Kundengruppen können über das Jahr verteilt von anderen Aktionen profitieren.» Reaktionen von Kundinnen und Kunden würden immer einzeln geprüft und beantwortet.
Reto Hügli, Sprecher der ÖV-Branchenorganisation Swisspass, ergänzt: «Es handelt es um eine ganz normale Marketingkampagne. Da profitiert mal die eine Kundengruppe, mal ist es eine andere.» Zu weiteren Fragen will er keine Stellung beziehen. Etwa wie viele Kunden wegen der Gutschein-Lotterie reklamiert haben. Oder wie viele das erhaltene Rabattversprechen eingelöst haben.
«Das verärgert treue Kunden»
Ob so der Rückgang der GAs aufzuhalten ist, bleibt unklar. Für einige ehemalige GA-Besitzer dürfte der Zug abgefahren sein.
Dieser Meinung ist man offenbar auch bei Pro Bahn, der Interessenvertretung der Kundinnen und Kunden des öffentlichen Verkehrs. «Stammkundenpflege sieht definitiv anders aus», sagt Präsidentin Karin Blättler (58) zur Gutschein-Aktion. «Mit Rabatten wird versucht, Kunden zurückzugewinnen. Das verärgert die treuen GA-Kunden.» Blättler fordert eine einfache, flexible und faire Lösung, damit die GA-Besitzer dem ÖV trotz Pandemie treu bleiben.
* Namen der Redaktion bekannt