Was in anderen Ländern gern auf morgen verschoben wird, haben die fleissigen Schweizer Büezer meist schon gestern erledigt: Das Arbeitsethos ist fester Bestandteil der helvetischen DNA.
Nun bekommt dieses Selbstbild Risse. Neue Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass Berufstätige inzwischen häufiger als früher der Arbeit fernbleiben – aus gesundheitlichen Gründen. 2022 fielen Vollzeitarbeitnehmende aufgrund von Krankheit oder Unfall durchschnittlich 9,3 Tage aus, also fast zwei Wochen. Das ist ein neuer Höchstwert.
Zwischen 2010 und 2019 lag die Anzahl der jährlichen Absenzen jeweils zwischen 6,2 und 7,2 Tagen. Und selbst in den Corona-Jahren 2020 (8,1 Absenztage) und 2021 (7,5) wurden im Rahmen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung deutlich weniger Ausfälle notiert als 2022.
Gesundheit und Arbeitsplatz
Gründe für die Häufung der Absenzen ermittelte das Bundesamt für Statistik nicht. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden als «Kernaufgabe» nennt, zeigt sich ebenso ratlos.
Die grossen Versicherungen, bei denen sich Arbeitgeber finanziell gegen Personalausfälle absichern können, gehen davon aus, dass sich die Einstellung zum Kranksein nachhaltig verändert habe – vor allem mit der Covid-Pandemie.
Die Rolle psychosomatischer Krankheiten
«Möglicherweise wurde durch die Pandemie das Bewusstsein für Ansteckungen geschärft, sodass Angestellte bei Krankheiten schneller zu Hause bleiben», sagt eine Sprecherin von Axa, einem grossen Player auf dem Markt der Krankentaggeld-Versicherungen.
Noch deutlicher wird die Sprecherin von Swica, der Marktführerin in diesem Bereich: «Eine Krankmeldung erfolgt heute eher schneller.»
Uneins sind sich die Versicherer jedoch bei der Frage, wie stark die viel diskutierte Zunahme psychischer Krankheiten ins Gewicht fällt. Während Axa in diesem Bereich «keinen signifikanten Anstieg» beobachtet, spielen «psychosomatische Krankheiten» gemäss Swica «eine grosse Rolle» bei der aktuellen Zunahme von Arbeitsunfähigkeiten.
Um den Negativtrend zu brechen, empfiehlt Swica, Konflikte am Arbeitsplatz frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu handeln.
Gesundheitsschutz ist Pflicht des Arbeitgebers
Das Seco wiederum ruft in Erinnerung, dass die Prävention von Gesundheitsrisiken bei der Arbeit nicht freiwillig sei, sondern im Arbeitsgesetz festgeschrieben ist. «Der Arbeitgeber muss alle Massnahmen treffen, die nötig sind, um den Gesundheitsschutz zu wahren und zu verbessern und die physische und psychische Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten», zitiert ein Sprecher aus der entsprechenden Verordnung. In der Verantwortung stünden somit die Arbeitgeber.
Beim Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV) fühlt man sich jedoch nur in Grenzen angesprochen. Andrea Schwarzenbach, stellvertretende Ressortleiterin Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht, betont zwar, dass die Gesundheit und das Wohlbefinden der Arbeitnehmenden für die Arbeitgeber «höchste Priorität» hätten und man die Zunahme bei den Absenzen «besorgt» beobachte. Sie ist jedoch überzeugt, dass der Gesundheitsschutz in den meisten Betrieben bereits heute elementarer Bestandteil der Unternehmenskultur ist.
Konkreten Handlungsbedarf sieht sie deshalb nicht: «Es fehlt der Schweiz nicht an gesetzlichen Grundlagen zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.»
Überdies merkt Schwarzenbach an, dass die Gründe für krankheits- und unfallbedingte Absenzen nicht zwingend auf die Tätigkeit am Arbeitsplatz zurückzuführen sein müssen. «Die Gefahren eines Unfalls oder einer Krankheit sind im privaten Umfeld mindestens genauso hoch.» Sie appelliert deshalb auch an die «Eigenverantwortung» der Arbeitnehmenden.
Arbeitnehmer fühlen sich gestresster
Vertreter der Arbeitnehmenden sehen das anders. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) führt die zusätzlichen Abwesenheiten darauf zurück, dass der Stress am Arbeitsplatz zunehme. «Abschalten nach der Arbeit ist für immer mehr Arbeitnehmende schwierig. Das erhöht das Risiko für stress- und krankheitsbedingte Absenzen», so ein SGB-Sprecher, der sich dabei auf die Ergebnisse der letzten Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik beruft.
Der SGB fordert die Arbeitgeber deshalb auf, Arbeitsorganisation und Ressourcen so anzupassen, dass für die Arbeitnehmenden keine gesundheitsgefährdende Überbelastung entstehe. In der Pflicht seien auch die kantonalen Arbeitsinspektorate. Sie müssten genauer hinschauen – etwa, ob die gesetzlichen Regeln zur Arbeitszeit in den Betrieben korrekt umgesetzt würden.